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Grünen-Politiker Kai Gehring über Angriff in Essen: "Jetzt reicht's"


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Grünen-Politiker attackiert
"Wer jetzt Weckrufe fordert, hat jahrelang geschlafen"

InterviewVon Thomas Terhorst

07.05.2024Lesedauer: 4 Min.
Kai Gehring: Der Grünen-Politiker ist Vorsitzender des Bildungsausschusses im Bundestag.Vergrößern des Bildes
Kai Gehring (Archivbild): Der Grünen-Politiker ist Vorsitzender des Bildungsausschusses im Bundestag. (Quelle: Thomas Trutschel/photothek.de/imago-images-bilder)

Der Grünen-Bundestagsabgeordnete Kai Gehring wurde mit seinem Parteikollegen Rolf Fliß in Essen von einem Unbekannten attackiert. Im Interview spricht Gehring über die Attacke und seinen Umgang mit zunehmendem Hass.

Nach dem Angriff auf den sächsischen SPD-Europapolitiker Matthias Ecke in Dresden sowie der Attacke auf den Bundestagsabgeordneten Kai Gehring und den dritten Bürgermeister der Stadt Essen, Rolf Fliß (beide Grüne), kocht die Debatte um mehr Schutz für Mandatsträger und andere politisch engagierte Menschen hoch. Im Interview mit t-online spricht Grünen-Politiker Kai Gehring über das, was er mit seinem Parteikollegen in Essen erlebte, über die Zündeleien der AfD und über längst überschrittene Grenzen der Gewaltbereiten.

t-online: Herr Gehring, gehen Sie derzeit angstfrei auf die Straße?

Kai Gehring: Ja, ich lasse mich nicht einschüchtern, will ansprechbar und bürgernah bleiben. Seit Samstag habe ich all meine Termine wahrgenommen, am Sonntag war ich am Grünen-Infostand auf einem großen Bürgerfest in meinem Wahlkreis und habe mich mit vielen Bürgerinnen und Bürgern ausgetauscht. Präsenz zeigen, jetzt erst recht. Wichtig ist, dass die Innenministerkonferenz jetzt substanzielle und wirksame Maßnahmen auf den Weg bringt, um die vielen Ehrenamtlichen und Wahlkämpfenden besser zu schützen und Sicherheit zu gewährleisten. Plakate kleben, Infostände und Veranstaltungen gehören zum fairen Wettbewerb im Wahlkampf und sind selbstverständlicher Teil unserer Demokratie. Dabei darf sich niemand bedroht fühlen. Der öffentliche Raum muss Freiheit und Sicherheit gewähren.

Erleben wir aktuell eine neue Dimension aufkeimender Gewalt gegen demokratische Politiker in Deutschland?

Wer jetzt noch Weckrufe fordert, hat jahrelang geschlafen. Der Mord an Walter Lübcke ist fast fünf Jahre her, der Messerangriff auf Henriette Reker neun. Aus Worten sind längst Taten geworden. Wir erleben seit Langem eine zunehmende Verrohung der Gesellschaft, eine Enthemmung und Radikalisierung gesellschaftlicher Ränder. Angriffe auf Menschen, die in der Öffentlichkeit stehen oder für uns als Gesellschaft ihren Dienst tun, wie Politiker, Journalisten, Rettungskräfte und Ehrenamtliche, nehmen zu. Das, was in den vergangenen Tagen an Gewalt stattfand, muss alle umtreiben. Da ist etwas gekippt, was wir wieder ins Lot bringen müssen. Gewalt ist kein Mittel demokratischer Auseinandersetzung, egal aus welchem Spektrum. Streit muss zivil bleiben und das staatliche Gewaltmonopol verteidigt werden.

Womit hängt die Aggression, deren Ausmaße Sie am Donnerstag in Essen erleben mussten, aus Ihrer Sicht zusammen?

Rolf Fliß und ich waren auf dem Weg nach Hause, in unserem Wohnquartier. Vor einem Restaurant wurden wir von Männern angesprochen, die uns als Grünen-Politiker erkannt hatten. Die Stimmung war erst freundlich, es wurde gar ein Gruppenfoto gewünscht. Die Situation kippte in Sekunden völlig unerwartet: Wir wurden beleidigt, Rolf Fliß geschlagen. Über den Grund für die Aggression kann ich nur spekulieren. Es gab keinen Streit, allein unsere Parteizugehörigkeit schien Trigger und Auslöser zu sein. Die Solidaritätswelle, die wir seitdem erleben, motiviert und zeigt: Jetzt reicht's, die übergroße Mehrheit will raus aus Zuspitzung und Eskalation und zurück zu respektvollem Umgang. Eltern müssen erziehen, Bildungseinrichtungen Demokratie vermitteln, Medienkompetenz muss wachsen. Die Verrohung in Teilen der Gesellschaft geht alle an.

Welchen Anteil hat Ihrer Auffassung nach die AfD an der aktuell zutage kommenden Demokratiefeindlichkeit?

Zur Attacke auf uns in Essen ermittelt der Staatsschutz weiter in alle Richtungen. In Dresden ist mindestens einer aus der brutalen Schlägertruppe, die Matthias Ecke schwer verletzten, Rechtsextremist. Führende AfD-Funktionäre riefen aus, demokratische Politiker zu jagen, heutzutage passiert genau das. Mit ihrem Rechtsextremismus trägt die AfD dazu bei, dass sich politische Ränder radikalisieren. Grenzen des Sagbaren wurden systematisch überschritten. Diese Enthemmung macht sich auch auf unseren Straßen bemerkbar. Die AfD diffamiert Minderheiten, andere demokratische Parteien und Institutionen, sie will "aufräumen" und "ausmisten", nutzt teils NSDAP-Parolen. Das schafft einen Nährboden für Gewalt, manche scheinen sich dadurch legitimiert zu fühlen.

Sie vertreten die Grünen in Essen im Bundestag und sind im Ruhrgebiet geboren. Wie bewerten Sie die Situation im Vergleich zu anderen Regionen?

Es ist eine großartige Aufgabe, für Essen und das Ruhrgebiet Politik zu machen. Wir sind eine Metropolregion, die Vielfalt, Strukturwandel und gesellschaftliche Spaltungen kennt – vor allem zwischen Arm und Reich, bildungsnah und -fern. Der Vorfall vor wenigen Tagen ereignete sich in unserem Stadtteil, einer grünen Hochburg, in der ich bei der vergangenen Wahl 30 Prozent Erststimmen gewann. Ein Essener Spezifikum erkenne ich darin nicht, denn die Angriffe auf Wahlkämpfende finden bundesweit statt und zeigen: Die Stimmung ist im ganzen Land aufgeheizter. Extremismus darf sich nirgendwo einnisten und breitmachen – egal, ob rechtsradikal, islamistisch, linksextremistisch oder antisemitisch. Unsere Gesellschaft braucht wieder mehr Zusammenhalt, mehr Empathie und Besinnung aufs Gemeinsame. Unsere Demokratie, unser Grundgesetz, unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung sind Errungenschaften, ihre Werte gilt es zu leben.

Wie ist die Situation als Bundestagsabgeordneter auf Social Media?

Beschimpfungen, Beleidigungen, Hass und Hetze sind auf Social Media seit Langem "alltäglich". Shitstorms, Grünen-Bashing und Angriffe gegen unsere Demokratie werden dort durch gezielte Desinformationskampagnen, Bots und russische Troll-Fabriken befeuert, die von extremistischen und autoritären Kräften orchestriert werden. Grenzüberschreitungen auf Social Media, wie Gewaltandrohungen, bringe ich regelmäßig zur Anzeige. Als Mitglied im Bundestag bin ich auf vielen verschiedenen Plattformen aktiv, um vielfältigste Zielgruppen für politische Kommunikation zu erreichen. Neuerdings auch auf TikTok, wo ich ein informatives, seriöses und zielgruppengerechtes demokratisches Angebot mache. Denn: Wir dürfen antidemokratischen Kräften Diskursräume nicht überlassen – weder im Internet noch auf der Straße.

NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) hält es nach dem Angriff in Dresden sowie nach der Attacke, die sie in Essen erlebten, für nötig, Schutzmaßnahmen für gefährdete Personen in der Öffentlichkeit hochzufahren. Stimmen Sie dem zu?

Jetzt ist die volle Härte unseres Rechtsstaats und Aufmerksamkeit der Zivilgesellschaft gefordert. Wir brauchen eine wache und wehrhafte Gesellschaft, stärker sensibilisierte Sicherheitsbehörden, aber auch eine Justiz, die in die Lage versetzt wird, Täter schnell und konsequent zu verurteilen. Bei zugespitzter Bedrohungslage braucht es auch für Kommunalpolitiker Personenschutz. Was ehrenamtlich Engagierten und Personen des öffentlichen Lebens konkret hilft, ist eine rasche Reform des Bundesmeldegesetzes und vereinfachte Möglichkeiten, eine lang dauernde Auskunftssperre einzurichten. Das muss jetzt zügig kommen und kann schnell Wirkung erzielen. Die große Solidarität und Menschlichkeit, die ich seit Freitag erlebe, ermutigt und tut gut. Viele Menschen in unserem Land wollen die Verrohung nicht zulassen, sondern wünschen sich Anstand, Respekt und eine faire politische Kultur.

Vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Interview mit Kai Gehring (Bündnis 90/Die Grünen), Bundestagsabgeordneter für Essen und Vorsitzender des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung im Bundestag
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