Ist Deutschland rassistisch? "Das sitzt sehr tief in der Gesellschaft"
Der Gesprächspartner muss auf jede unserer Fragen antworten. Anschließend bekommt er seine Antworten vorgelegt und kann sie autorisieren.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Es gibt Rassismus, in Deutschland und weltweit. Aber wie überwinden wir langfristig etwas, was in allen Menschen angelegt scheint? Interview mit Autorin Gilda Sahebi.
Gilda Sahebi ist Journalistin, Autorin und Ärztin. Ihr Arbeitsschwerpunkt liegt innenpolitisch auf der Migrationsgesellschaft und Frauenrechten, außenpolitisch auf dem Nahen Osten und Menschenrechten im Iran. Jetzt hat sie ein neues Buch veröffentlicht: "Wie wir uns Rassismus beibringen. Eine Analyse deutscher Debatten." Zeit für ein Gespräch, um zu erfahren, wie wir Rassismus vielleicht auch wieder verlernen können,
t-online.de: Frau Sahebi, Deutschland hat eine rassistische und antisemitische Geschichte. Ist es bis heute ein rassistischeres Land als andere?
Gilda Sahebi: Das ist eine Kategorie, die ich irrelevant finde. Es ist auch schwer messbar. Jedes Land hat aufgrund seiner spezifischen Geschichte eigene Ausprägungen des Rassismus. Schmerz ist nicht relativierbar und wird auch nicht besser, wenn ich darauf schaue, dass jemand anders auch Schmerzen hat. Deutschland hat in Europa allerdings die höchste Zahl rechtsextremer Gewalttaten.
Ihr Buch heißt "Wie wir uns Rassismus beibringen". Das interessiert mich, also: Wie lernen wir denn Rassismus?
Wir lernen Rassismus, wie wir alles lernen. Von Kindheit an lernen wir unbewusst Dinge, die in unserer Umgebung präsent sind. Wir lernen nicht nur, was wir sollen, sondern etwa auch negative Glaubenssätze wie "Ich bin nicht klug genug" oder "Ich bin nicht schlau genug", wenn wir sie oft hören oder erleben. Das erzeugt Geschichten in uns, die wir für den Rest unseres Lebens mit uns herumtragen – wenn wir sie uns nicht bewusst machen und aktiv bearbeiten. Wir können nicht stoppen, dass wir unbewusst alles lernen, was um uns herum präsent ist. Die Frage ist: Wie gehen wir damit um? Wenn wir nicht wissen, dass rassistische Vorurteile in uns präsent sind, können wir daran nichts ändern. Deshalb habe ich das Buch geschrieben, um diese Fragen aufzuwerfen: Was habe ich gelernt? Woran glaube ich denn? Bewusstsein ist der erste Schritt.
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Welche rassistischen Erzählungen sitzen in Deutschland am tiefsten?
Was hier sehr ausgeprägt ist, ist die Unterscheidung in "Wir" und "Die". Die ganz, ganz starke Trennung zwischen "echten Deutschen" und denen, die es nicht sind. Das ist völlig unabhängig vom rechtlichen Status. Wenn ich in Berlin durch die Straßen gehe, habe ich gelernt, Menschen danach zu unterscheiden, wer "echt deutsch" ist und wer nicht. Weil auch ich mit diesem rassistischen Narrativ aufgewachsen bin, obwohl das eigentlich gar keinen Unterschied machen sollte.
Die Unterscheidung in "Wir" und "Die" hat in Deutschland eine sehr lange Geschichte. Das geht zurück bis zum Kaiserreich, zur Nationenbildung mit Begriffen wie "Volk" und "Staat". Das Staatsbürgerschaftsrecht von 1913 hat festgesetzt, dass nur "deutsch" sein darf, wer "deutschen Blutes" ist. Das galt fast hundert Jahre lang und sitzt sehr tief in dieser Gesellschaft. Es legt das Fundament für viele Debatten, wie wir vieles in dieser Gesellschaft besprechen. Von der Bezahlkarten-Diskussion bis zu den Silvesternächten – darum geht es im Buch.
Ist die Debatte heftiger, seit es einen politischen Akteur wie die AfD in Deutschland gibt?
Also, ich spreche im Buch nicht von einem Rechtsruck – denn diese Gedanken sind schon sehr lange in Deutschland präsent. Es gibt die beiden vermeintlichen Problemlösungsmittel "Grenzen dicht" und "Ausländer ausweisen" schon seit den 1970er-Jahren immer wieder in Debatten. Das sind aber natürlich keine Lösungen für gesellschaftliche Probleme.
Was sich mit der AfD verändert hat: Es ist das erste Mal eine parlamentarische Option, eine menschenfeindliche Kraft zu wählen, die die Chance auf Einfluss hat. In Deutschland fehlen uns noch Studien, aber in den USA zeigt die Forschung schon deutlich: Durch Trump ist die USA nicht rassistischer geworden. Aber der Rassismus wird normalisiert. Trump-Wähler denken so rassistisch wie zuvor, glauben aber jetzt, sie seien nicht rassistisch – so hat Trump massiv Wähler mobilisiert, wie Studien zeigen.
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Rassismus ist "weder rechts noch links", schreiben Sie in Ihrem Buch. Wie lässt sich Rassismus bei denen bearbeiten, die sich für nicht rassistisch halten?
Die Grundlage ist Wissen. Nur Dinge, über die ich mir bewusst bin, kann ich ändern. Unsere Debatten sind voller rassistischer Vorurteile, aber sie werden nicht benannt. Einerseits, weil sich die Menschen dessen nicht bewusst sind, aber andererseits auch, weil Menschen nicht darüber sprechen möchten. Kinder lernen in der Schule: Rassismus ist schlecht. Aber sie lernen gleichzeitig auch rassistische Erzählungen über sehr viele Gruppen von Menschen. Sie lesen in Schulbüchern von Deutschen und Migranten. Warum diese Unterscheidung, wenn es um Menschen geht?
Erleben Sie Abwehr, wenn Sie über diese Themen sprechen?
Interessanterweise gar nicht. Zumindest nicht in direkten Gesprächen, mit Menschen, die mehr über sich selbst und ihre Gesellschaft lernen möchten. Ich beschreibe, wie Themen in Medien und Politik verhandelt werden. Um die individuelle Ebene geht es mir gar nicht. Ich bezeichne Menschen auch nicht als Rassisten – außer bei extremen Einstellungen wie bei Rechtsextremen wie Björn Höcke oder Martin Sellner. Menschen haben rassistische Einstellungen – wir alle – aber ob wir sie füttern, ob wir rassistisch handeln oder ob wir sie bearbeiten, das ist ja jedem selbst überlassen. Ich stoße auf viel Nachdenklichkeit und Neugier.
Wie können wir Rassismus verlernen?
Das ist individuelle Arbeit. Menschen müssen sich bewusst dafür entscheiden, sich mit ihren eigenen rassistischen Bildern auseinanderzusetzen, sich immer wieder zu sagen: Das ist nicht wahr. Aktiv entgegensteuern. Mir geht es aber um die gesellschaftliche Ebene. Und da gilt: Deutschland muss sich entscheiden, ein Einwanderungsland zu sein. Und zwar nicht nur faktisch, wie es schon lange der Fall ist, sondern ideell.
Vom "Wir schaffen das" zum "Wir wollen das". Dann können wir die Frage, wer oder was deutsch ist, auch anders diskutieren. Aber da sind wir nicht. Deshalb führen wir immer noch alle drei Wochen Debatten über "Paschas" oder Vornamen. Damit wird immer wieder verhandelt: Gehöre ich dazu in Deutschland – oder nicht? Fortschritte werden wir erst sehen, wenn wir diesen Punkt überwinden.
Noch eine andere Frage, da Sie auch eine ausgewiesene Iran-Expertin sind: Wie schätzen Sie dort die Situation ein, nachdem das Mullah-Regime Israel angegriffen hat?
Es ist ein besorgtes Abwarten. Niemand weiß, wann eine Eskalation kommt. Im Moment ist vor allem die innenpolitische Situation im Iran brisant: Das Mullah-Regime geht mit aller Härte gegen jeden Ansatz von Protesten vor, angeblich, um das Land in der brisanten außenpolitischen Situation zu stabilisieren. Aber sie haben diese außenpolitische Verschärfung selbst herbeigeführt. Sie versuchen nun innenpolitisch, jede Art von Destabilisierung zu unterdrücken. Das zeigt unter anderem auch das erschütternde Todesurteil für den beliebten Rapper Toomaj Salehi.
Wie enttäuscht sind Sie von progressiven Debatten in Deutschland, von Menschen, die vor Kurzem noch die Freiheitsbewegung im Iran mit "Jin, Jiyan, Azadî" unterstützt haben und jetzt dem iranischen Regime zujubeln, wenn es gegen Israel geht?
Es ist so offensichtlich, dass dabei die Menschen in der Region keine Rolle spielen, sondern nur die eigene Ideologie. Ich gucke mir das gar nicht mehr an.
Was lässt sich aus Deutschland für die nach Freiheit und Demokratie strebenden Menschen im Iran tun?
Die Aufmerksamkeit darf nicht nachlassen, weil die Menschenrechtslage dort weiter sehr gefährlich ist. Und es gibt Menschen, die weiter jeden Tag gegen das Regime kämpfen. Menschenrechtsorganisationen unterstützen dabei – an die zu spenden, hilft auch.
Frau Sahebi, vielen Dank für das Gespräch.
- Telefoninterview mit Gilda Sahebi, 26.04.2024