Die WM-Blamage Deutschlands Scheitern in fünf Kapiteln
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Das Vorrunden-Aus der deutschen Nationalmannschaft bei der WM in Russland ist der Tiefpunkt einer monatelangen Entwicklung mit vielen Nebenkriegsschauplätzen. Das Scheitern in fünf Kapiteln.
Kein Turnier läuft ohne Schwierigkeiten ab, die meistens gar nichts mit dem Sport zu tun haben. Vor der WM 2014 beispielsweise kam es bei einem Sponsorentermin in Südtirol zu einem schweren Unfall. Und auch bei der WM 2018 gab es einige Aufregerthemen abseits des Platzes. Am Ende waren es wohl zu viele, die Nationalelf ist nach Niederlagen gegen Mexiko (0:1) und Südkorea (0:2) sowie einem Sieg gegen Schweden (2:1) erstmals in ihrer Geschichte in der Gruppenphase der WM gescheitert.
Kapitel 1: Die Erdogan-Fotos
Einen Tag vor der Nominierung des vorläufigen WM-Kaders, am 14. Mai, erlebt der Deutsche Fußball-Bund ein PR-Desaster. Auf Twitter posten die Mitarbeiter des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan brisante Fotos. Sie zeigen Mesut Özil und Ilkay Gündogan, zwei der international bekanntesten Gesichter der Nationalelf, wie sie dem umstrittenen Machthaber signierte Trikots überreichen. Jenem Erdogan, der die Meinungsfreiheit in seinem Land einschränkt und Kritiker mitunter auch mal wegsperren lässt. Auf dem Trikot von Manchester City, das Gündogan überreicht, steht: "Hochachtungsvoll, für meinen Präsidenten."
Özil und Gündogan, zwei enorm wichtige Spieler der DFB-Elf, werden bis zum WM-Aus nicht mehr zurück zu ihrer Top-Form finden, wirken fortan gehemmt und abgelenkt. Beim Testspiel in Klagenfurt werden sie von den eigenen Fans ebenso ausgepfiffen wie bei der WM-Generalprobe in Leverkusen gegen Saudi-Arabien. Die Fans sind wütend, fordern den Rücktritt oder Rauswurf der beiden Spieler.
Die Gegenmaßnahmen: ein Termin der beiden Spieler beim deutschen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier, ein öffentliches Statement. Gündogan erklärt darin, er habe keine politische Botschaft senden wollen, obwohl sich Präsident Erdogan zu diesem Zeitpunkt im türkischen Wahlkampf befindet. Später wiederholt der Mittelfeldspieler seine Erklärungen in mehreren Interviews und bekennt sich zu demokratischen Grundwerten. Mesut Özil schweigt bis heute.
Beide werden die Debatte nicht mehr los.
Auch intern sind die Spieler unterschiedlicher Meinung. Wichtige Führungsspieler wie Hummels, Müller oder Neuer deuten an, dass sie das Verhalten ihrer Kollegen für einen Fehler halten. So beginnt das Trainingslager in Südtirol.
Kapitel 2: Die Streitfälle im Kader
Gar nicht erst dabei sein darf Sandro Wagner. Der hatte zwar gerade beim FC Bayern eine gute Rückrunde gespielt und war seit dem Titelgewinn beim Confed Cup ein fester Bestandteil des Teams. Trotzdem schafft er es noch nicht einmal in den vorläufigen Kader. Wagner reagiert beleidigt und erklärt seinen sofortigen Rücktritt. Zusätzlich schießt er noch einmal in Richtung Trainerteam: Typen wie er, mit einer starken Meinung, seien bei der Nationalelf wohl nicht gefragt.
Bei der endgültigen Nominierung des WM-Kaders am 2. Juni sorgt der Bundestrainer für eine weitere faustdicke Überraschung: Er schickt Leroy Sané heim, der wenige Wochen zuvor zum besten Jungprofi der englischen Premier League gewählt worden ist. Unter Pep Guardiola stürmte er mit Manchester City zum Titel, erzielte zehn Tore und bereitete 15 weitere vor.
Viele Experten kritisieren Löw dafür. Wahr ist: Sané konnte in der Nationalelf bisher nie so glänzen wie im Verein. Das lag allerdings auch daran, dass er unter Löw nie die taktischen Freiheiten bekam wie unter Guardiola.
Hätte einer wie Wagner die Nationalelf wachgerüttelt und mitgerissen? Und hätte Löw eine Position für den hochbegabten Dribbler Sané schaffen müssen?
Ein anderer darf mitfahren – und bekommt sogar die Garantie als Nummer 1: Manuel Neuer. Die Entscheidung ist umstritten, weil Marc-André ter Stegen beim FC Barcelona eine herausragende Saison gespielt hat und Neuer zudem ohne Spielpraxis nach neunmonatiger Verletzungspause zur Nationalelf kommt.
Neuer wird im Turnier ohne entscheidenden Patzer bleiben, doch alle drei Kader-Entscheidungen werden natürlich auch im Team kritisch hinterfragt.
Kapitel 3: Die Überheblichkeit nach den Testspielen
Je näher die WM rückt, desto bescheidener werden die Leistungen der Nationalelf. Schon in den Testspielen gegen Spanien (2:2) und Brasilien (0:1) im März war die DFB-Elf jeweils das schlechtere Team. Gegen Österreich und Saudi-Arabien soll es aufwärts gehen.
Tatsächlich verliert die Nationalelf in Klagenfurt gegen den Nachbarn mit 1:2, verspielt dabei eine Führung und zeigt eine beängstigende Leistung. Gegen Saudi-Arabien zittert sich das Löw-Team am 8. Juni zu einem 2:1-Sieg.
Panik? Alarm? Mitnichten. Der Tenor der Spieler und Verantwortlichen: "Beim Turnier werden wir eine andere deutsche Mannschaft sehen." Schuld soll einzig die Müdigkeit aus dem harten Trainingslager sein – ein Irrtum.
Kapitel 4: Die Sportschule Watutinki
Die Verantwortlichen haben sich für Watutinki, einen trostlosen Vorort von Moskau, als WM-Hauptquartier entschieden. Der liegt verkehrsgünstig, bietet allerdings kaum Möglichkeiten zur Ablenkung. Die Nationalelf reist am 12. Juni an – und ist fortan isoliert im russischen Nirgendwo.
Auch der neu gebaute Hoteltrakt lässt zu wünschen übrig. Bei Matthias Ginter fällt der Fernseher von der Wand. Co-Trainer Thomas Schneider hat zunächst kein Wasser. Bundestrainer Jogi Löw spricht vom "Charakter einer besseren Sportschule." Und Toni Kroos sagt, bei dieser Unterkunft freue er sich umso mehr auf den bevorstehenden Urlaub.
Eigentlich sollte das eine Nationalmannschaft nicht zu sehr beeinflussen, schließlich geht es um sportliche Leistung und keinen Wellness-Urlaub. Der Eindruck, der vor Ort und durch die Aussagen der Spieler entsteht, ist ein anderer.
Auch zwischen Bundestrainer Löw und Nationalmannschaftsdirektor Oliver Bierhoff soll es laut "Bild" wegen des Quartiers gekracht haben. Löw favorisierte angeblich genau wie die meisten Spieler das Sonnenparadies Sotschi am Schwarzen Meer – und bekam die Wälder von Watutinki.
Kapitel 5: Der Zoff mit den Medien
Nach der Niederlage gegen Mexiko zum WM-Auftakt am 17. Juni prasselt aus allen Richtungen Kritik auf die Mannschaft ein. Stürmer Mario Gomez sagt zwar: "Selten haben die Analysen so mit unserer internen Kritik übereingestimmt." Doch einige Führungsspieler fühlen sich an den Pranger gestellt.
Toni Kroos etwa reagiert nach seinem viel umjubelten Siegtreffer gegen Schweden beleidigt und behauptet, viele in Deutschland hätten gerne ein Vorrunden-Aus der Nationalelf gesehen. Auch Mats Hummels ärgert sich und fühlt sich falsch interpretiert, seine Aussagen nach der Pleite gegen Mexiko ("Jérôme (Boateng, d. Red.) und ich wurden im Stich gelassen") seien aufgebauscht worden.
Die Nationalspieler fühlen sich angegriffen, besonders die Weltmeister von 2014 hätten in der Öffentlichkeit gerne mehr Vertrauen genossen. Doch einen Bonus für vergangene Titel gibt es auch auf dem Platz nicht – das mussten sie im abschließenden Gruppenspiel gegen Südkorea (0:2) noch einmal schmerzlich erfahren.
Die Nationalmannschaft scheitert somit zum ersten Mal überhaupt in der Gruppenphase der WM, ausgerechnet als Titelverteidiger. Sie wirkt dabei seltsam müde und leblos, ohne den Teamgeist vergangener Jahre – und geschwächt von zu vielen Nebenkriegsschauplätzen.
- eigene Recherche