Liebesleben Keine Lust auf Sex: Was hinter Asexualität steckt
Sex gehört für die meisten Menschen zum Leben wie Essen oder Schlafen. Doch was, wenn sich die Lust einfach nicht einstellen möchte?
Der Begriff Asexualität bedeutet das fehlende Interesse an Sexualität. Ein asexueller Mensch verspürt kein sexuelles Verlangen und fühlt sich demnach nicht zu einem anderen Menschen sexuell hingezogen, egal welchen Geschlechts.
Zudem unternehmen Asexuelle keine oder selten sexuelle Handlungen zur eigenen oder fremden Befriedigung. Dies schließt jedoch eine romantische Anziehung nicht aus. Schätzungsweise ein Prozent der Bevölkerung ist asexuell.
Asexualität ist keine Störung
Asexualität ist strikt zu unterscheiden von sexuellen Funktionsstörungen wie etwa Impotenz oder Schwierigkeiten beim Orgasmus. Asexualität wird nicht als Krankheit angesehen, da sie bei Asexuellen kein Leiden auslöst. Dieses entsteht meist erst durch sozialen Druck. Die Definition dieser Ausrichtung ist jedoch wissenschaftlich nicht eindeutig. Der Begriff ist vor allem für Menschen eine wichtige Selbstbeschreibung, die sich selbst als asexuell sehen. Sie bezeichnen sich meist als ASS (Asexuelle Personen).
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"Sex ist für mich nicht reizvoll"
Therese S. ist eine Frau in ihren Fünfzigern. Sie trägt einen modischen Kurzhaarschnitt, arbeitet als Sportlehrerin, trifft sich gern mit Freunden oder wandert. Was kaum jemand weiß: Die Schweizerin ist asexuell. "Ich habe kein Bedürfnis nach Geschlechtsverkehr, auch nicht in einer Beziehung. Wohl aber nach Körperkontakt und Zärtlichkeiten", sagt sie.
Schülerin Julia B. fühlte sich bisher zu keinem Menschen körperlich hingezogen. Für die Mittzwanzigerin aus dem Saarland sind sexuelle Handlungen in etwa so reizvoll wie ein ungeliebtes Schulfach: "Man macht es halt, weil man muss. Aber wenn es vorbei ist, ist man froh", so die Abiturientin. Mehr als Petting hat sie bisher nicht zugelassen – und kann sich das auch künftig nicht vorstellen.
Ursachen für Asexualität sind unbekannt
Keine Lust auf Sex? Das mag in unserer übersexualisierten Welt seltsam anmuten. Dabei sind phasenweise Flauten im Bett auch für Menschen mit Sexualtrieb nicht selten oder ungewöhnlich: Ob Stress im Job oder Ärger in der Beziehung – da kann das erotische Interesse schon mal versiegen.
Doch Asexualität ist nicht dasselbe wie Abstinenz. Denn letztere bedeutet lediglich den Verzicht auf sexuelle Aktivitäten, obwohl Motivation und Fähigkeit prinzipiell vorhanden sind, während bei Asexuellen dies fehlt. Wer unter einer länger anhaltenden Unlust leidet, körperlich aber gesund ist, könnte aber auch eine sexuelle Appetenzstörung haben, also Lustlosigkeit.
Gründe können etwa in einem Hormonmangel oder der Einnahme bestimmter Medikamente liegen. Außerdem vermuten manche Sexualwissenschaftler hinter Asexualität eine andersartige Funktion in jenen Arealen des Gehirns, die das Verlangen steuern. Früher zog man psychische Ursachen als Erklärung heran: negative sexuelle Erfahrungen, beispielsweise Missbrauch in der Kindheit oder Vergewaltigung, Depressionen oder eine nicht ausgelebte Homosexualität. Heute geht man jedoch davon aus, dass Asexualität angeboren ist und schlichtweg eine Ausprägung menschlicher Sexualität.
Ich bin asexuell – und das ist auch gut so!
Asexuelle Menschen haben keinen Leidensdruck. Sie betrachten ihre Unlust als Teil ihrer Persönlichkeit. Durch das weltweite Netzwerk "Aven" (Asexual Visibility and Education Network) haben die beiden Frauen eine Möglichkeit zum Austausch mit anderen Asexuellen gefunden. Im deutschen Sprachraum gibt es Aven seit dem Jahr 2005. Ziel der Internetplattform ist es, den Austausch asexueller Menschen zu erleichtern und ihre Akzeptanz zu erhöhen. "Viele Betroffene sind durch ihre andauernde Lustlosigkeit sehr verunsichert", sagt Therese S. "Durch das Forum erfährt man, dass man damit nicht allein ist, fühlt sich extrem erleichtert und verstanden."
Der Sexualwissenschaftler Volkmar Sigusch schreibt in seinem Buch "Sexualitäten: Eine kritische Theorie in 99 Fragmenten": "Es ist ein Akt der Emanzipation, wenn sich heute Männer wie Frauen, die kein sexuelles Verlangen haben, zu dieser nur scheinbar aus dem Rahmen fallenden Eigenheit offen bekennen. Denn die Lustlosigkeit [...] hat sehr viel mehr mit der kulturellen Transformation und insbesondere geschlechtlichen Differenzierung der alten, angeblich natürlich und stets endogen-trieblich gesteuerten sprudelnden Sexualität zu tun als mit der fachlich haltbaren Diagnose einer sexuellen Störung."
"Sex ist für mich erniedrigend"
Asexuelle Menschen sind keine gefühlskalten Wesen. "Ich bin nicht sexfeindlich, kann mich verlieben und mag ausgiebiges Streicheln und Zärtlichkeiten", sagt etwa Therese S. Die Schweizerin hatte auch schon Geschlechtsverkehr. Da war sie 31 und sehr verliebt in einen Mann aus ihrem Sportverein. Mit ihm erlebte sie nach ein paar Monaten Beziehung ihr allererstes Mal.
"Es war nicht schlimm oder eklig", so Therese S. "Aber es war auch nicht gut, sondern eher schade um die Zeit." Glücksgefühle oder gar ein Orgasmus? Fehlanzeige. Ihrem Partner zuliebe hatten sie regelmäßig Sex. Dies erschien ihr jedoch nicht als geeignete Form, um Liebe auszudrücken. "Auf Dauer fand ich den Geschlechtsverkehr lieblos, animalisch und erniedrigend", so die 51-Jährige. Das spürte ihr Partner – und verletzte ihn. Erst als er Therese S. bat, ihm einen Orgasmus vorzutäuschen, verstand sie, wie sehr er unter ihrer Art zu lieben litt. Deshalb trennte sie sich von ihrem Freund. Seit damals lebt sie, wie sie selbst sagt, als glücklicher Single.
Asexualität in Beziehungen
Asexuelle stoßen durch ihr nicht vorhandenes Interesse an Sex in Beziehungen mit Mitmenschen mitunter auf Widerstände. Es bedeutet jedoch nicht, dass sie nicht beziehungswillig oder -fähig sind. Manche Asexuelle haben in einer Partnerschaft – ähnlich wie Therese S. – einvernehmlich Sex, um ihre Beziehung zu pflegen oder zumindest nicht zu gefährden. Auch ein Kinderwunsch kann ein Grund sein, trotz Abwesenheit sexueller Empfindungen, einem Geschlechtsverkehr zuzustimmen. Manche Asexuelle wünschen sich platonische Beziehungen.
Wenig Akzeptanz vom Umfeld
Und was sagt ihr Umfeld zu ihrer Asexualität? "Ich rede sehr selten darüber und wenn, dann nur mit ausgewählten Freunden. Aber eigentlich möchte ich mehr darüber sprechen", gibt Therese S. zu. Auch Julia B. lebt ihre Asexualität nicht offen. "Meine Freunde würden mich nur schief angucken und meine Familie würde das überhaupt nicht gutheißen", vermutet sie. Beide Frauen wünschen sich, als Asexuelle in der Gesellschaft akzeptiert und nicht als Außenseiter, verklemmte oder gar kranke Menschen angesehen zu werden.
- Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.
- asexuell.info
- asexuality.org
- "Sexualitäten: Eine kritische Theorie in 99 Fragmenten" (Volkmar Sigusch)
- eigene Recherche