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Attacke auf SPD-Politiker: Jetzt bloß nicht zur Tagesordnung übergehen


Tagesanbruch
Jetzt bloß nicht zur Tagesordnung übergehen

  • Daniel Mützel
MeinungVon Daniel Mützel

Aktualisiert am 06.05.2024Lesedauer: 7 Min.
Meinung
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Mann mit Hammer vor dem Fernseher (Symbolbild): Die Zunahme der Gewalt gegen Amtsträger ist ein Alarmzeichen.Vergrößern des Bildes
Mann mit Hammer vor einem Fernseher (Symbolbild): Deutschland erlebt eine Welle politischer Gewalttaten. (Quelle: IMAGO/xdiy_13x/imago-images-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

es ist eine Schande, was sich in den vergangenen Tagen auf Deutschlands Straßen abgespielt hat.

Vermummte haben am Freitag in Dresden den SPD-Spitzenkandidaten für die Europawahl, Matthias Ecke, beim Plakatieren überfallen. Wenige Minuten zuvor war in unmittelbarer Nähe ein Wahlkampfhelfer der Grünen ebenfalls angegriffen worden, wahrscheinlich von derselben Tätergruppe. Bereits am Donnerstag war Rolf Fliß, dritter Bürgermeister von Essen und Mitglied der Grünen, beim Spazierengehen beleidigt und geschlagen worden. Und in Niedersachsen griffen am Samstagmorgen zwei Personen einen AfD-Landtagsabgeordneten an seinem Infostand an, warfen erst Eier, bevor sie handgreiflich wurden.

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Was erschreckt, ist nicht nur die Häufung der Fälle in so kurzer Zeit, sondern auch, wie brutal die Täter ihre Opfer traktierten. Die vier Dresdner Angreifer – ein Zeuge ordnete sie dem "rechten Spektrum" zu – schlugen so heftig zu, dass der SPD-Politiker Ecke mit einem Bruch des Jochbeins, Bruch der Augenhöhle und Schnittverletzungen im Gesicht notoperiert werden musste. Und der Essener Bürgermeister wurde laut einem Parteikollegen "noch in den Bauch getreten, als er bereits am Boden lag".

Diese Angriffe sind nicht nur feige und zutiefst verwerflich. Sie sind Anzeichen dafür, wie die politische Kultur in Deutschland verroht. Wenn immer mehr Leute dazu übergehen, den politischen Gegner nicht mehr mit Worten zu stellen, sondern mit körperlicher Gewalt aus dem politischen Diskurs drängen zu wollen, geht das an die Substanz des Gemeinwesens.

Dabei spielt es überhaupt keine Rolle, welches Parteibuch der Geschädigte hat. Jeder Angriff ist ein Angriff auf uns alle, weil er das Grundprinzip einer offenen Gesellschaft verletzt, Interessenkonflikte gewaltfrei auszutragen.

Das Erschreckende: Die genannten Fälle sind bei Weitem keine Einzelfälle. Wie verbreitet politische Gewalt in Deutschland mittlerweile ist, zeigen die Zahlen. Im Jahr 2023 wurden insgesamt 2.970 Straftaten (u. a. Beleidigung, Bedrohung, Nötigung) gegen Bundestagsabgeordnete und Parteimitglieder gemeldet. Die Dunkelziffer dürfte um ein Vielfaches höher sein. Überdurchschnittlich stark betroffen waren Vertreter der Grünen (1.219), gefolgt von AfD-Mitgliedern (478) und SPD (420). Von den fast 3.000 Straftaten sind insgesamt 234 Gewaltdelikte.

Kommunalpolitiker kämpfen dabei an vorderster Front gegen die Verrohung der demokratischen Kultur. Seit Jahren werden Bürgermeister, Stadträte und Ehrenamtliche immer wieder zur Zielscheibe von Hass und Gewalt: Parteibüros werden beschädigt, Ehrenamtliche verprügelt, Lokalpolitiker vor ihrer Haustür von "Demonstranten" belästigt oder bedroht.

Wie dramatisch die Lage ist, hat der Deutsche Städte- und Gemeindebund Anfang des Jahres in einer Broschüre zusammengefasst. Demnach haben 38 Prozent aller Kommunalpolitiker "bereits Erfahrungen mit verbalen und digitalen Anfeindungen, Beleidigungen, Bedrohungen und Übergriffen – und das sogar mehrfach – gemacht". Bei den Nicht-Amtsträgern (Mitarbeiter in Gemeindeverwaltungen, Rettungskräfte, Ehrenamtliche) sind es sogar 42 Prozent. Besonders perfide: In neun Prozent der Fälle wurden sogar Familienangehörige zum Ziel der Angriffe.

Das sind unerträgliche Zahlen, die jeden Demokraten alarmieren müssen. Und sie führen unweigerlich zu der Frage, wie viel Gewalt eine Demokratie überhaupt verträgt. Oder anders gefragt: Wann schaffen es Antidemokraten, die politischen Verhältnisse durch Androhung oder Anwendung körperlicher Gewalt in ihrem Sinn zu kippen?

Ein Klima der Angst ist schwer messbar. Wir wissen nicht, wie viele Menschen bereits davor zurückschrecken, sich zu engagieren, weil sie befürchten, selbst zur Zielscheibe zu werden oder ihre Familie in Gefahr zu bringen. Das ist das Perfide an politischer Gewalt: Nach dem ersten Schock wirkt sie unsichtbar, wie Gift, das langsam das Gemeinwesen zersetzt.

Denn allzu häufig folgt aus dem medialen Aufschrei über eine Tat nicht allzu viel. Oftmals bleibt es bei Solidaritätsbekundungen und Appellen, bis man wenige Tage später zur Tagesordnung zurückkehrt. So bitter das klingt: Man muss davon ausgehen, dass die Angriffe zumindest teilweise Erfolg haben werden. Schon allein aus dem Grund, weil er die Betroffenen dazu zwingt, sich darauf einzustellen, um sich vor weiteren Angriffen zu schützen.

Wenn die SPD Sachsen jetzt auf das Plakatieren in der Nacht (der Angriff auf Ecke geschah um 22.30 Uhr) verzichtet, ist das selbstverständlich vollkommen nachvollziehbar. Aber wenn sich Demokraten nur noch tagsüber auf die Straße trauen, um Wahlplakate zu kleben, wenn sie sich in ihren eigenen Büros nicht mehr sicher fühlen oder wenn Ehrenamtliche hinschmeißen, um ihre Familien nicht zu gefährden, läuft etwas gehörig schief in diesem Land.

Dass nun die Parteiführer des demokratischen Spektrums ihre Solidarität mit Ecke und den anderen Betroffenen unmissverständlich ausdrücken, ist ein wichtiges Signal. Aber es reicht nicht. Was auf keinen Fall passieren darf, ist ein Zurück zur Tagesordnung. Denn die größte Gefahr ist, sich an solche Zustände zu gewöhnen – und damit stillschweigend in Kauf zu nehmen, dass die Gewalt weiter um sich greift.

Die Politik muss zeigen, dass sie das Problem in seiner demokratiegefährdenden Dimension verstanden hat und Gegenmaßnahmen ergreift. Klar, es wäre illusorisch zu glauben, der Staat könnte einfach mal mit ein paar Maßnahmen die politische Kriminalität beenden. Aber es geht eben auch um das Signal, diese jahrelange Fehlentwicklung nicht länger hinzunehmen, Aufmerksamkeit zu schaffen, die Schutzvorkehrungen von Betroffenen zu erhöhen und nicht zuletzt den Tätern mit dem kompletten Werkzeugkasten des Rechtsstaats auf die Pelle zu rücken.

Der Deutsche Städte- und Gemeindebund hat in seiner Studie Vorschläge gemacht, wie die Auswüchse der Gewalt gegen Amtsträger zumindest eingedämmt werden können. Etwa durch stärkere öffentliche Thematisierung oder das Schaffen zentraler Anlaufstellen für Betroffene.

Vor allem bei Letzterem besteht noch großer Nachholbedarf: Denn viele Betroffene leiden unter körperlichen oder psychischen Folgen der Angriffe und fühlen sich alleingelassen. Auch könnten solche Einrichtungen als Meldestellen dienen, um so überhaupt die Ausmaße des Problems zu erfassen. Schätzungen zufolge werden nur elf Prozent der Fälle überhaupt angezeigt. Auch beim Thema Strafrechtsverschärfung, Einrichtung von Schwerpunktstaatsanwaltschaften oder der Verantwortung von Plattformbetreibern bei Online-Hetze ist noch Luft nach oben.

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Es scheint sich etwas zu bewegen: Am Sonntag haben sich mehr als 100 Politiker in einer Erklärung parteiübergreifend (außer BSW und AfD, Letztere durfte aber auch nicht unterschreiben) gegen politische Gewalt ausgesprochen. Am Abend organisierte das Netzwerk "Zusammen gegen rechts" zudem eine Solidaritätskundgebung am Brandenburger Tor, auch in Dresden demonstrierten rund 3.000 Menschen.

Auch Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) will aus dem Angriff auf ihren Parteikollegen offenbar Konsequenzen ziehen. Sie hat diese Woche eine Sondersitzung der Innenminister von Bund und Ländern angeregt. Ob etwas daraus folgt, sollte nun genau beobachtet werden.

Einer der Dresdner Schläger, ein 17-Jähriger, hat sich mittlerweile der Polizei gestellt. Was sein Motiv war und wer seine Mittäter waren, werden die Ermittlungen vermutlich bald zutage fördern. Auch Matthias Ecke hat sich inzwischen zurückgemeldet. Aus dem Krankenhaus ließ er überbringen, er wünsche sich, dass es nicht nur um ihn gehe, sondern um all jene, die sich für Demokratie einsetzen. Aus der SPD Sachsen hieß es zudem, Ecke habe die Operation gut überstanden und werde den Wahlkampf nach seiner Genesung wohl fortsetzen. Das stehe aktuell aber nicht im Vordergrund.

Es darf kein "Weiter so" geben. Wir müssen unsere Demokratie und jene, die sie qua Amt ins Werk setzen, schützen – ob sie nun Berufspolitiker sind oder Ehrenamtliche. Der Mord an CDU-Politiker Walter Lübcke durch einen Rechtsextremisten im Jahr 2019 ist uns noch allen in Erinnerung. Wir dürfen die Vorboten der Gewalt nicht ignorieren.


Was steht an?

Scholz an der Nato-Ostflanke: Kanzler Olaf Scholz (SPD) reist am Montag nach Litauen, um Bundeswehrsoldaten der 10. Panzerdivision zu besuchen, die dort an der Nato-Großübung "Quadriga" teilnehmen. Themen werden unter anderem die russische Bedrohung und die deutsche Antwort darauf sein: die deutsche Litauen-Brigade, die ab 2027 das baltische Land beschützen soll.

Die Brigade steckt noch in ihren Anfängen, erst vor Kurzem wurde ein Vorauskommando von rund 20 Bundeswehrsoldaten nach Litauen entsandt. Noch fehlen dem Großverband Material, Personal und die Finanzierung. Vielleicht kann Scholz seinen litauischen Freunden diesbezüglich ein paar Neuigkeiten mitbringen. Anschließend reist Scholz nach Lettland, um seine drei baltischen Amtskolleginnen zu treffen.


Wird China Druck auf Russland ausüben? Diese Frage wird im Mittelpunkt stehen, wenn Frankreichs Präsident Emmanuel Macron am Montag den chinesischen Staatschef Xi Jinping empfängt. Im Juni veranstaltet die Schweiz eine Ukraine-Friedenskonferenz, zu der Russland nicht eingeladen ist und China bisher nicht zugesagt hat. Aus Regierungskreisen ist zu hören, dass das Kanzleramt die Chance auf Chinas Teilnahme mit 50:50 bewertet.

Macron hatte bis zuletzt noch vergeblich versucht, Scholz mit ins Boot zu holen und so europäische Geschlossenheit zu demonstrieren. Doch Scholz wollte seine Reise ins Baltikum nicht absagen. Es ist der erste Besuch von Xi Jinping in Europa seit der Corona-Pandemie. Nach einem Empfang in Paris will Xi nach Ungarn und Serbien weiterreisen. Vor allem Serbien gilt als Außenstelle Moskaus.


Lesetipps

Die Ukraine ist unter starkem Druck, es droht eine Offensive der russischen Armee. Deutschland und Europa müssen sich dieser Realität stellen und konsequent handeln, fordert Historiker Jan C. Behrends im Gespräch mit meinem Kollegen Marc von Lüpke.


Ab Montag trifft sich die CDU für ihren Bundesparteitag in Berlin-Neukölln. Eigentlich ist die Stimmung gut. Streitpunkte gibt es dennoch, analysiert meine Kollegin Sara Sievert.


Nicht erst seit dem berauschenden Sieg über den FC Bayern ist klar: Der VfB Stuttgart spielt eine herausragende Saison – und kommendes Jahr in der Champions League. Entscheidenden Anteil daran hat der Trainer, wie mein Kollege Noah Platschko schreibt.


Zum Schluss

Ich wünsche Ihnen einen erträglichen Montag. Morgen kommt der Tagesanbruch von Florian Harms.

Herzliche Grüße

Daniel Mützel
Reporter im Hauptstadtbüro von t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

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Verwendete Quellen
  • Mit Material der Nachrichtenagentur dpa
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