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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Ex-Botschafter Lindner "Wir sollten Indien lieber nicht unterschätzen"
Indien wird vom Westen umworben, das Land strebt an die Weltspitze. Gegenüber westlichen Avancen gibt es jedoch Misstrauen, im Ukraine-Krieg wahrt das Land Distanz. Ex-Botschafter Walter J. Lindner erklärt die Gründe.
Es wird eine Wahl der Superlative, fast eine Milliarde Inder entscheiden in den kommenden Wochen über ihr neues Parlament. Indien, das bevölkerungsreichste Land der Erde, ist eine Demokratie. Doch ist eben diese gefährdet? Der Hindu-Nationalist Narendra Modi will zum dritten Mal Regierungschef werden, seine Kritiker werfen ihm autoritäre Tendenzen vor.
Walter J. Lindner, dessen Buch "Der alte Westen und der neue Süden. Was wir von Indien lernen sollten, bevor es zu spät ist" kürzlich erschienen ist, war drei Jahre deutscher Botschafter in Neu-Delhi – und rät im Interview zum Vertrauen in die indische Demokratie. Zudem erklärt Lindner, warum Belehrungen aus dem Westen in Indien alles andere als willkommen sind und Neu-Delhi eine ganz andere Position zu Russland und dessen Krieg gegen die Ukraine einnimmt, als es in westlichen Regierungszentralen gewünscht wird.
t-online: Herr Lindner, Indien ist für die meisten Europäer ein Mysterium: Politisch und wirtschaftlich strebt das Land an die Weltspitze, andererseits beunruhigen aggressiver Hindu-Nationalismus und Massenarmut. Können Sie das Rätsel ein wenig lüften?
Walter J. Lindner: Indien ist ein Land der absoluten Gegensätze, es ist sperrig und macht seine Erschließung nicht leicht. Ja, in Indien wird der Hinduismus immer wieder von Fanatikern missbraucht, manche folgen einem blinden Nationalismus, ja, Millionen leben in bitterer Armut und es gibt immer wieder schreckliche Gewalt gegen Frauen, um ein weiteres Beispiel für Probleme zu nennen. Andererseits ist Indien ein Land der Vielfalt und der Toleranz, des opulenten Reichtums, einer aufstrebenden Mittelschicht, und auch ein Land, in dem etwa selbstbewusste Frauen beeindruckende Karrieren machen. Sie steuern Flugzeuge und U-Bahnen, leiten Unternehmen oder sind Polizistinnen. Nahezu jede Aussage über Indien ist richtig, aber eben auch ihr Gegenteil.
Knapp eine Milliarde Menschen sind ab dem 19. April in einem wochenlangen Prozess zur Wahl des indischen Parlaments aufgerufen. Wird die Wahl demokratisch ablaufen?
Es wird die größte demokratische Wahl in der Geschichte der Menschheit sein – und sie wird trotz mancher Defizite demokratisch ablaufen. Die Inder haben reichlich Erfahrungen mit Wahlen, auf Bundes- und Landesebene. Als ich im April 2019 mein Amt als Botschafter in Neu-Delhi antrat, fanden gerade die letzten Parlamentswahlen statt. Rund 900 Millionen Menschen hatten damals die Möglichkeit zur Wahl. Allein die geografischen Rahmenbedingungen sind gewaltig: von der Karawanenstadt Jaisalmer in den westlichen Sandwüsten über das Delta des Ganges im Osten des Festlandes, vom Himalaja im Norden bis Trivandrum im Süden. Die Nikobaren im Indischen Ozean nicht zu vergessen.
In 28 Bundesstaaten und 9 Direktgebieten, bei Hunderten von Sprachen. Und das alles ohne größere Unregelmäßigkeiten, wie Medien und Wahlbeobachter bestätigten. Das nötigte mir schon damals allergrößten Respekt ab. Nun sind es sogar 80 Millionen Wahlberechtigte mehr. Kaum ein Beobachter erwartet etwas anderes, als dass diese gigantischen Wahlen auch diesmal ohne größere Beanstandungen verlaufen werden.
Walter Johannes Lindner, Jahrgang 1956, ist studierter Jurist und ausgebildeter Musiker. Als Diplomat fungierte Lindner als deutscher Botschafter u. a. in Kenia, Somalia, Südafrika, Venezuela und schließlich von 2019 bis zu seiner Pensionierung 2022 in Indien. Ferner war Lindner unter anderem Pressesprecher von Joschka Fischer und Staatssekretär im Auswärtigen Amt unter Sigmar Gabriel. Kürzlich ist Lindners Buch "Der alte Westen und der neue Süden. Was wir von Indien lernen sollten, bevor es zu spät ist" erschienen.
Der bisweilen als "asiatischer Trump" titulierte Hindu-Nationalist Narendra Modi will zum dritten Mal in Folge Regierungschef werden. Kritiker werfen ihm illiberale und autoritäre Ziele vor, gar den Umbau Indiens zur Scheindemokratie. Was ist Ihre Ansicht?
Indien ist eine robuste Demokratie. Wie alle Demokratien ist auch sie nicht perfekt, aber sie funktioniert. Auf Wahlveranstaltungen wird heftig diskutiert, Kandidaten suchen den Kontakt zu den Wählern. Auf der Straße, im Radio und Fernsehen wird um Wählerstimmen gebuhlt, ebenso auf den Handys, selbst auf dem Land, wo die digitale Infrastruktur weit besser ist als in so mancher deutschen Großstadt. In dieser Hinsicht ist uns Indien übrigens weit voraus. Der politische Diskurs ist oft laut und wenig zimperlich – auf allen Seiten. Was nun Narendra Modi betrifft: Zweifelsohne fand und findet unter seiner Ägide unter Verweis auf die zunehmende Bedeutung Indiens in der Welt eine Stärkung des nationalen Stolzes und des indischen Selbstvertrauens statt.
Kürzlich ist in Indien ein populärer Oppositionspolitiker festgenommen worden, zugleich ein umstrittenes Staatsbürgerschaftsgesetz in Kraft gesetzt worden, von dem sich Muslime diskriminiert fühlen. Sind diese aktuellen Vorgänge kein Grund zur Sorge?
Die indische Rechtssystem, hier also vor allem Verfassungs- und Verwaltungsgerichte, ist mit beidem befasst und wird beurteilen, ob es Gründe zur Beanstandung gibt. Nehmen wir das Staatsbürgerschaftsgesetz: Es beinhaltet Punkte, die aus Sicht der Kritiker Anlass zur Sorge geben, weil darin nach dem Gesichtspunkt der Religion differenziert wird. Die Regierung hingegen führt vor allem historische und geografische Gründe an, warum hier eine Differenzierung zulässig sei. Fast alle Nachbarstaaten Indiens sind muslimische Länder, sodass eine beschleunigte Einbürgerung nicht-muslimischer Glaubensangehöriger deren Schutz dienen solle. Wir werden sehen, ob das Verfassungsgericht dem folgt.
Und auch der Fall des verhafteten Oppositionspolitikers ist kein Fall für Schwarz-Weiß-Schablonen: Es lagen acht gerichtliche Vorladungen zur Befragung in Korruptionsfällen vor, denen der Politiker nicht nachgekommen war. Wollen wir hier den indischen Gerichten sagen, wie sie dies juristisch zu bewerten haben? Ich finde, wir tun gut daran, den Empörungsreflex erst zu aktivieren, wenn das indische innenpolitische und juristische System der "Checks and Balances" nicht funktionieren sollte. Wahlkampfpolemik ist in jedem Land normal. Da sollten wir uns nicht hineinziehen lassen. Hinzu kommt: Kritik unter Freunden ist völlig in Ordnung, nicht wenige Inder sind aber allergisch gegenüber einer Tonlage, die eine gewisse Überheblichkeit oder subtile Herablassung gegenüber Ländern des Globalen Südens heraushören lässt.
Die Aufforderung zur Einhaltung demokratischer Spielregeln ist aber doch nicht überheblich?
Natürlich nicht. Aber es ist eine Frage von Augenhöhe, des Respektes und der doppelten Standards. Fordert uns Indien auf, die Bundestagswahlen demokratisch abzuhalten und die Spielregeln einzuhalten? Mit dem unterschwelligen Klang, man traue den deutschen Gerichten nicht? Mit einer noch heute weite Teile der Welt prägenden Kolonialgeschichte, zwei Weltkriegen und dem tiefsten Absturz aller Werte im Holocaust haben viele Länder des europäischen Kontinents dunkle Flecken auf ihrer Werte-Weste. Mit moralischer Überheblichkeit sollten wir also sehr vorsichtig sein. Viele Staaten des Globalen Südens hören genau hin, woher Belehrungen kommen und mit welchem Tonfall sie vorgetragen werden.
Besteht die Herausforderung nicht aber auch darin, die Demokratie zu erhalten und zu schützen? Zahlreiche Mitglieder der Regierung Modi entstammen der extremistischen Vereinigung Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS), die einen Hindu-Nationalismus propagiert und insbesondere die muslimische Bevölkerungsgruppe als Feindbild ausgemacht hat.
Am RSS entzünden sich in Indien in der Tat heftige ideologische Debatten. Kaum einer, der keine Meinung hierzu hätte. Die einen verurteilen ihn mit Vehemenz als Wurzel von Gewaltexzessen, Zwietracht, Spaltung und religiöser Intoleranz. Und als Wegbereiter und Unterstützer von Gewaltexzessen radikaler Hindu-Nationalisten gegenüber Muslimen, so etwa 2023 in der in Nordindien gelegenen Stadt Nuh, wo Hindu-Fanatiker eine Moschee in Brand gesteckt haben und der Imam getötet worden ist. So etwas ist völlig inakzeptabel. Andere wiederum halten die Vorwürfe für unzutreffend und stellen die Organisation gar als Förderer eines Dienstes an der Gesellschaft und spirituellen Kulturerhaltes dar. Hinzu kommt: Viele politischen Schwergewichte der BJP haben und hatten enge Verbindungen zum RSS.
2019 haben Sie sich mit dem RSS-Chef Mohan Bhagwat getroffen, das Treffen führte bei einigen zu Kritik. Warum haben Sie Bhagwat aufgesucht?
Mein Prinzip auf all meinen Posten war stets, mir selbst eine Meinung zu bilden. Und zwar vor Ort.
Und welches Bild entstand?
Ich hatte allerhand ungeschminkt-kritische Fragen im Gepäck, die Bhagwat auch allesamt beantwortet hat. Es gab keine Restriktionen. Allerdings hatte ich das Gefühl, dass er sehr genau wusste, was ich hören wollte. Auch der RSS strebe Toleranz und Harmonie zwischen den Religionen an, setze sich für friedliches Miteinander ein, so seine Aussagen. Meine Zweifel blieben. Eine Demokratie muss immer wachsam sein, ob Extremisten sie von innen aushöhlen wollen. Das gilt für Indien ebenso wie für die westlichen Demokratien. Bei der Beurteilung Indiens und anderer Länder des Globalen Südens tendieren wir allerdings meist zu mehr Strenge als in Bezug auf uns selbst.
Bitte erklären Sie das näher.
Indien blickt auf eine 7.000 Jahre währende Geschichte zurück, Varanasi am Ganges ist wohl die am längsten dauerhaft bewohnte Stadt in der Geschichte der Menschheit. Über lange Zeiträume war Indien wohlhabend, wurde aber immer wieder von Invasoren aus dem Norden ausgeplündert und lag nach der Kolonialherrschaft der Briten, die das einstige Kronjuwel des Empires bettelarm, ohne Selbstvertrauen, mit der Hypothek eines Bürgerkrieges, religiöser Gewalt, Landesabspaltungen und umstrittenen Grenzziehungen zurückließen, am Boden. Wenn nun ehemalige Kolonialmächte oder "der Westen" belehrend auftreten und dem aufstrebenden Indien erklären wollen, was es zu tun und lassen habe, stößt das in Indien auf Irritationen. Und ich kann das nachempfinden.
Ist diese Erkenntnis der Schlüssel, um Indien besser verstehen zu können? Die anhaltende Weigerung der Regierung unter Narendra Modi, sich von Russland angesichts des Krieges gegen die Ukraine zu distanzieren, stößt im Westen eher auf Unverständnis.
Um Indien zu verstehen, müssen wir uns mit Indien beschäftigen. Vor allem sollten wir uns tatsächlich den erhobenen moralischen Zeigefinger sparen, das kommt weder in Indien noch in anderen Ländern des Globalen Südens gut an. Europa und die USA als Nabel der Welt, der für den Rest des Globus allein die Maßstäbe setzt? Diese Zeiten sind vorbei. Indiens Außenminister Subrahmanyam Jaishankar hat dies folgendermaßen auf den Punkt gebracht: "Europa muss aus dem Denkmuster herauswachsen, dass Europas Probleme die Probleme der Welt sind, denn die Probleme der Welt sind nicht die Probleme Europas." Indien hat einen etwas anderen Blick auf diesen Krieg.
Welchen?
Indien wäre ein Ende der Gewalt zwischen Russland und der Ukraine auch lieber. Das vorneweg geschickt. Aber zugleich ist dieser Krieg für Indien – und das gilt auch für zahlreiche andere Länder des Globalen Südens – nicht nur weit entfernt, sondern in erster Linie eben ein Konflikt zwischen Russland und dem Westen. Und Indien pflegt zu beiden ein besonderes Verhältnis.
Großbritannien hatte Indien einst unterworfen, zur Sowjetunion unterhielt Indien seit seiner Unabhängigkeit 1947 hingegen beste Beziehungen. Spielen Sie darauf an?
Ja. Nehmen wir die Grenze, die heute Indien und Pakistan trennt. Wer hat sie gezogen? Das war ein britischer Beamter, seine Entscheidung hat Folgen bis in die Gegenwart für die beiden verfeindeten Staaten. Andererseits: Großbritannien hat Indien auch sein Wahl- und Verwaltungssystem sowie das Bahnnetz hinterlassen. Viele Inder leben und arbeiten seit Generationen in Großbritannien, und in Europa. Auf der anderen Seite dürfen wir nicht vergessen, dass Indien ebenfalls eine sozialistische Tradition besitzt.
Jawaharlal Nehru, Indiens erster Ministerpräsident, definierte sein Land als demokratische, säkulare, aber eben auch sozialistische Republik.
So ist es. Es bestand eine ideologische Nähe zur Sowjetunion, aber auch eine pragmatische. Bei dem 1971 ausgetragenen militärischen Konflikt um die Loslösung Ostpakistans, dem heutigen Bangladesch, vom räumlich weit entfernen Westpakistan hatte nahezu der gesamte Westen auf der Seite Westpakistans gestanden, das die Trennung von seinem Ostteil nicht akzeptieren wollte. Die Sowjetunion unterstützte hingegen Neu-Delhi. Das hat Indien Russland niemals vergessen. Überhaupt votierte der Westen in Fragen der zwischen Indien und Pakistan umstrittenen Region Kaschmir im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen regelmäßig im Sinne Pakistans. Indien konnte sich aber immer auf Moskau verlassen.
Ebenso kann Indien derzeit auf konstante russische Lieferungen von Öl und Waffen vertrauen. Tauscht Neu-Delhi politische Neutralität in Sachen Ukraine gegen preisgünstige Sachgüter aus Russland?
Indien handelt pragmatisch – und konzentriert sich auf seine eigenen Interessen. Warum sollen wir aufgrund eines Konflikts, den wir weder verschuldet noch befeuert haben, auf dem Weltmarkt einen stark überhöhten Ölpreis zahlen? Wie sollen wir Bildungsausgaben, sozialem Fortschritt und Umweltverpflichtungen nachkommen? Auch diese Fragen stellte man sich in Indien nach dem Beginn der russischen Invasion der Ukraine 2022. Die Regierung unter Narendra Modi, aber auch jede politische Alternative, will Schulen bauen und das eigene Land entwickeln. Putins Krieg ist da erst mal weit weg. Im Übrigen unterstreicht man aber auch in Delhi, dass man kein Embargo verletze. Und natürlich: Dass eine Reihe europäischer Staaten ihre Erdgasimporte aus Russland nach Putins Einmarsch sogar noch erhöht haben, wird von indischer Seite genau beobachtet.
Gleichwohl sollte Indien angesichts seiner territorialen Konflikte mit Pakistan und China Interesse an einer globalen Sicherheitsordnung haben?
Selbstverständlich. Das bevölkerungsreichste Land der Erde muss Bestandteil einer solchen Ordnung sein. Und wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass die europäische Sicht auf die Welt nicht die einzige ist. Seit Eintreffen der Nachricht von der russischen Invasion der Ukraine im Februar 2022 habe ich als Botschafter Deutschlands in Indien den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Putins und die barbarischen Akte gegen die ukrainische Zivilbevölkerung gegenüber indischen Medien ständig thematisiert, in Interviews, Reden, auf Panels, in Talkshows. Wirklich durchgedrungen bin ich mit meinen Argumenten wohl eher nicht. Nur ein Argument sah man sofort ein: Wenn gewaltsame Grenzverschiebungen ungeahndet blieben, könne sich fortan jeder mächtige Nachbar – für Indien vor allem der Blick auf Peking – daran ein Beispiel nehmen und auf Nachbarländer nach Belieben zugreifen. Indien sieht aber auch hier doppelte Maßstäbe angelegt.
Welche?
Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Der Westen fordert nun Solidarität ein für seinen Kurs gegen Russland. Westliche Solidarität hat Indien hingegen vermisst, wenn es Konflikte mit China hatte. Oder: Wo waren die Hüter des nun beschworenen Völkerrechts, als die Amerikaner unter konstruierten Umständen in den Irak einmarschiert sind? Darauf erhält Indien keine überzeugenden Antworten – weil es sie kaum geben wird. Und wir sollten auch nicht vergessen, dass sich mit Indien auf der einen Seite und China und Pakistan auf der anderen Seite gleich drei Atommächte in der Region gegenüberstehen. An Grenzen, deren Verlauf von der jeweils anderen Seite bestritten wird. Dass diese Krisenherde nicht zukünftige heiße Konflikte werden, ist geopolitisch enorm wichtig, aber für Europa eher eine Herausforderung an der Peripherie. Die Anwendung doppelter Standards wird in Indien mit besonderem Sensorium sehr schnell bemerkt.
Indien pflegt seit dem Kalten Krieg und im Prinzip bis heute eine Politik der Blockfreiheit. Wie lässt sich das Land trotzdem für eine intensive Zusammenarbeit mit den westlichen Staaten im Bereich der Sicherheitspolitik gewinnen?
Indien will auf Augenhöhe behandelt werden, dann behandelt es auch uns auf Augenhöhe. Das Land pflegte angesichts seiner Blockfreiheit immer schon Pragmatik und Balance in seiner Außenpolitik. Politischen Staatengruppen – etwa G20, Brics, Quad – hat sich Indien angeschlossen, aber militärischen Allianzen oder Blöcken wird sich Delhi nicht zuwenden. Durch geschicktes Balancieren in der heutigen Multipolarität der Weltpolitik schafft es Indien, seine eigenen Interessen zu wahren – gegenüber China und Russland, aber auch gegenüber uns im Westen. Wir sollten Indien lieber nicht unterschätzen.
Hat das Land aufgrund seiner Größe, Bevölkerungszahl und jahrzehntelangen Rolle als blockfreier Staat das Potenzial, zur Repräsentanz des Globalen Südens zu avancieren?
Unbedingt. Ob es die einzige Stimme des Globalen Südens sein wird, ist allerdings unwahrscheinlich. Auch Peking hegt da Ambitionen. Indien hingegen hat aufgrund seiner Tradition als ungebundener und flexibler Player einen Vorteil gegenüber China. Aber eine der wichtigsten dieser Stimmen zu sein, wenn nicht die wichtigste, auf diesem Weg ist Indien bereits heute. Und dennoch wartet das bevölkerungsreichste Land der Erde bis heute auf einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat – ein Armutszeugnis der UN!
Als Botschafter dienten Sie von 2019 bis 2022 in Neu-Delhi, das Land kannten Sie aber schon aus Ihrer Jugend. Wie hat sich Indien seit Ihrem ersten Besuch verändert?
Einerseits gewaltig, andererseits gar nicht. Natürlich ist alles moderner, größer, glänzender. Aber die jahrtausendealte Kultur und Spiritualität ist unverändert. Ich bin 1977 nach Indien gereist, als Backpacker. Das Geld hatte ich durchs Taxifahren in München und das Überführen von Lastwagen in den Nahen Osten zusammengespart. Als ich ankam, erwartete mich erst einmal ein Schock.
Warum?
Ich kam mit Hermann Hesses Werk "Siddhartha" unter dem Arm an, hoffte darauf, den Ursprungsort von legendären Musikern wie Ravi Shankar zu erkunden und die Weisheit von Gurus und Sadhus ergründen zu können. Viel Idealisierung war dabei, ich gebe es zu. Die Realität war weniger rosig. Trotz monatelanger Überlandfahrt durch wilde Länder wie den Iran – unter dem Schah – und Afghanistan – unter dem König – erlitt ich wohl zunächst das, was wir heute einen Kulturschock nennen. Schon bei den Zugfahrten ging es los, es war so überfüllt, dass die Leute durch die Fenster ein- und ausstiegen. Toiletten? Fehlanzeige. Menschen ließen der Natur direkt im Abteil freien Lauf, auf mir landeten zerkaute Betelnüsse, die Hitze war unbeschreiblich, der Lärm ohrenbetäubend, und Platzangst durfte man gewiss nicht haben.
Aber Sie sind geblieben?
Ja. Nach drei Tagen im Zug aus Lahore kam ich im Juli 1977 in Delhi an. Meine erste Nacht verbrachte ich in einem Rotlichtviertel nahe dem Hauptbahnhof, es war heiß, dreckig, unangenehm. Das war nicht das, was ich mir vorgestellt hatte. Später habe ich das eher ländliche Indien entdeckt – und wurde belohnt. Neben allen Schockmomenten begann sich mir Indiens atemberaubende Schönheit, seine Tiefgründigkeit, die kulturelle Buntheit und Vielfältigkeit zu offenbaren. Indien muss man sich erarbeiten, muss Offenheit und Neugier auf Unbeschreibliches mitbringen, dann aber bietet es einem Schätze und Erkenntnisse wie kein anderes Land der Erde.
Sechs Monate waren Sie in Indien, dann sind Sie weiter nach Nepal gereist. Weshalb?
Ich war mit Indien noch lange nicht fertig, aber mein Körper und meine Sinne brauchten eine Ruhepause. Das Land ist zu intensiv – insbesondere wenn man es als Backpacker in billigsten Unterkünften und Transportmitteln bereist. Das hält man nicht zu lange an einem Stück durch. Übrigens: Im Jahr 1977 lebten in Indien bereits 677 Millionen Menschen. Andererseits: heute sind es mehr als doppelt so viele. Eine der Veränderungen, die das Land seit meiner ersten Reise erlebte. Ich setzte meine Reise dann über Nepal fort und umrundete einmal den Erdball. Nach vier Jahren kam ich wieder in Deutschland an, Geld und Reiselust waren erst mal ausgeschöpft. Nicht aber die Gewissheit, die Reise durch Indien zu späterer Zeit fortzusetzen. Was ich nicht wusste: dann als deutscher Botschafter.
In Ihrem Buch "Der alte Westen und der neue Süden" raten Sie uns dringend, uns Indien in mancher Hinsicht zum Vorbild zu nehmen. Was sollen wir lernen?
Indien ist mittlerweile vieles, was Deutschland nicht mehr ist: jung, dynamisch und innovativ. Dazu improvisationsbereit, widerstandsfähig, digital weit entwickelt, kulturell vielfältig, bunt, mit enormem Wirtschaftswachstum und mit globalem Blick: Indische Staatsbürger leben fast in jedem Staat der Welt. Das Land ist die gesuchte Stimme des Globalen Südens. Deutschland umwirbt Indien, als wirtschaftlichen, umweltpolitischen und strategischen Partner in einer zunehmend unsicheren Welt. Da liegt es nahe zu schauen, was Indien anders macht als wir: Dort existieren Pragmatismus, Innovationsfreude und Risikobereitschaft neben einer tiefen Spiritualität, es gibt einen philosophischen Überbau, in dem es nicht allein um das bloße Geldmachen geht.
Auch wenn die Dominanz des Westens schwindet: Werden Demokratie, Menschenrechte und die Freiheit des Individuums als Grundbestandteile des Gesellschaftsmodells westlicher Prägung auch in Indien Bestand haben?
Ob die "westliche Prägung" immer vorne stehen muss oder wird, weiss ich nicht. Aber Indiens Demokratie ist die größte der Welt, sie ist robust und hat in den letzten Jahrzehnten viele Herausforderungen bravourös gemeistert. Dass nicht jede Demokratie der Bonner Republik entsprechen muss, dass Brüssel für die 450 Millionen Einwohner der Europäischen Union sprechen mag, dass aber 7,5 Milliarden Menschen außerhalb des europäischen Spektrums leben, und dass nicht jede gesellschaftliche Entwicklung westlicher Staaten auch im Rest der Welt geteilt wird, ist jedem klar, der die Welt bereist und zuhört.
Unterschiedliche Weltregionen warten mit sehr diversen politischen, klimatischen, kolonialen, kulturellen und religiösen Besonderheiten auf. Und heute bereits leben weniger als 20 Prozent der Weltbevölkerung in westlichen Ländern. Mit welchem Recht wollen wir den 80 Prozent vorschreiben, wie die Welt zu funktionieren habe? Und wo steht Indien? Ich glaube, dass die Gründungsväter des unabhängigen Indien genau richtig lagen: Indiens nationale Einheit wird durch Diversität und religiöse Vielfalt gestärkt. Fest steht aber, dass Bescheidenheit und Demut seitens des Westens in Indien besser ankommen als das bloße Propagieren westlicher Werte. Denn dass der Westen diese viel zu oft selbst ignoriert hat, hat niemand im Globalen Süden vergessen.
Herr Lindner, vielen Dank für das Gespräch.
- Persönliches Gespräch mit Walter J. Lindner via Videokonferenz