Tagesanbruch Das ist schmerzhaft für Habeck
Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
ob sich in der Debatte über die "Habeck-Papers" zum Atomausstieg langsam mal alle Seiten abreagiert haben? Meine Güte ist das wieder wild. Zwischentöne haben es in diesem Tohuwabohu schwer. Dabei scheint mir in der Sache noch nicht alles gesagt zu sein. Der Montagmorgen nach der ersten Aufwallung könnte eine gute Gelegenheit sein, es noch mal in Ruhe zu versuchen. Also los.
Es gibt zwei Dinge, die gleichzeitig wahr sein können. Erstens: Die vermeintlichen "Enthüllungen" des "Cicero" enthüllen bisher keinen Skandal. Zweitens: Im großen Streit über die kleine Laufzeitverlängerung vor zwei Jahren haben die Grünen einen ideologischen Rückfall erlebt. Der jetzige Nicht-Skandal ist für sie deshalb trotzdem gefährlich – und für manche schmerzhaft. Für Robert Habeck zum Beispiel.
Die vermeintlichen "Enthüllungen" bestehen vor allem aus Banalitäten. Es ist Alltag, dass nicht alle Entwürfe und Papiere, die in einem Ministerium geschrieben werden, den Minister erreichen. Er muss natürlich trotzdem gut informiert werden, das stimmt. Allerdings spricht bisher nichts dafür, dass es in diesem Fall grobe Versäumnisse gab, also irgendetwas Unbekanntes bei der Entscheidung nicht berücksichtigt werden konnte.
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Ein Haufen Fakten spricht aber selten für sich allein. Verschiedene Tatsachen müssen eingeordnet und gewichtet werden. Bei der Atomkraft zum Beispiel: Wie viel Nutzen muss die Technologie in einer kritischen Lage bringen, um ihr Restrisiko zu rechtfertigen? Eine eindeutige Antwort gibt es auf diese und andere Fragen nicht. Deshalb entscheiden in Ministerien am Ende Minister und nicht Abteilungsleiter. Die einen können für Fehlentscheidungen abgewählt werden, die anderen nicht.
Insofern ist der Vorwurf, der bei den "Enthüllungen" mitschwingt, eine noch größere Banalität: Natürlich sind Entscheidungen von Politikern politische Entscheidungen. Was sonst? Wichtig für ihre Bewertung ist, wie sie zustande kommen. Ob alle Seiten Gehör finden im demokratischen Prozess. Ob alle Fakten einbezogen werden. Und ob alle eine gewisse Offenheit dafür mitbringen, ihre vorgefertigte Meinung in der Debatte durch gute Argumente erschüttern zu lassen. Und genau da wird es für die Grünen unangenehm.
Es brauchte keinen bösen Willen, um damals den Eindruck zu gewinnen, dass viele Grüne diese Debatte nicht ergebnisoffen führen wollten. Besonders in der Bundestagsfraktion sperrten sich einflussreiche Grüne selbst gegen die dreieinhalb Monate Streckbetrieb mit den noch vorhandenen Brennstäben, die es letztlich geworden sind. Aus grundsätzlichen Gründen. Man kann auch sagen: aus ideologischen. Denn die Wirklichkeit hatte sich durch die Energiekrise tatsächlich verändert, im Gegensatz zur grünen Grundüberzeugung.
Ihre Argumente, warum das mit der längeren Laufzeit auf gar keinen Fall denkbar oder möglich oder sinnvoll sein könne, wechselten manche Grüne recht munter durch. Was nicht gerade zur Vertrauensbildung beitrug. Das bringe nur wenig, hieß es zum Beispiel (aber immerhin ein bisschen?). Das sei bei den überfälligen Sicherheitsüberprüfungen zu gefährlich (aber steigt die Gefahr in den paar Monaten Extrabetrieb wirklich so sprunghaft?). Und sowieso seien Atomkraftwerke zu unflexibel (nur warum brauchte man dann später genau solche unflexiblen Kraftwerke für die Grundlast?).
Die noch weitergehende Diskussion, ob es nicht doch sinnvoll sein könne, frische Brennstäbe zu kaufen, wischten die Grünen beiseite. Es gebe spätestens nach Fukushima einen gesellschaftlichen Konsens für den Atomausstieg, behaupteten sie. Das war nicht nur intellektuell reichlich bequem, sondern auch bevormundend. Der heftige Streit zeigte ja, dass es den behaupteten Konsens nicht mehr gab. Sogar in der internationalen Klimabewegung gibt es mehr Vorliebe für Atomkraft, als es manche Grüne gerne hätten. Und bei der Energiewende muss tatsächlich vieles sehr schnell und sehr gut laufen, damit wir nicht noch länger Gas und Kohle verbrennen müssen, als uns lieb ist.
Das alles bedeutet nicht, dass man für den Wiedereinstieg in die Atomkraft sein muss. Es gibt weiterhin gute Argumente dagegen, die hohen Kosten etwa, die sich in anderen Ländern schon zeigen oder andeuten. Aber so einfach, wie es sich viele Grüne damals gemacht haben, war es eben nicht. Sie hatten offensichtlich Angst davor, die Atomfrage noch einmal grundsätzlich zu diskutieren – und möglicherweise zu verlieren.
Für Robert Habeck ist das alles mehrfach unangenehm. Nach allem, was man weiß, hatte er anders als viele Grüne in der Bundestagsfraktion kein Problem mit den paar Monaten Streckbetrieb für die verbliebenen Atomkraftwerke. Trotzdem sprach Habeck sich zunächst nur dafür aus, zwei von ihnen in der Reserve zu halten. Es brauchte ein "Machtwort" von Kanzler Olaf Scholz, damit es gleich der Streckbetrieb für alle drei wurde. Der Kanzler entlastete Habeck so davon, seine Partei überzeugen zu müssen. Das klingt praktisch, spricht aber nicht gerade für die Führungsstärke des Vizekanzlers.
Es ist unwahrscheinlich, dass es Habeck in einer solchen Frage heute noch mal so weit kommen lassen würde. Die Grünen standen und stehen öffentlich als Ideologen da, und das eben nicht ganz zu Unrecht. Es ist ein Eindruck, den sie aus Habecks Sicht dringend loswerden müssen, um auch in der Mitte der Gesellschaft erfolgreicher zu sein. Für ihn persönlich kommt hinzu, dass er sich seitdem in jeder zweiten Diskussion über die Energiewende für einen Atomkurs rechtfertigen muss, der nicht wirklich seiner war. Dabei würde er viel lieber über seine (unbestreitbaren) Erfolge beim Ausbau der erneuerbaren Energien sprechen.
Für alle diese Erkenntnisse braucht es keinen aufgeplusterten Scheinskandal um Abteilungsleiter-Vermerke. Nur macht es das für die Grünen nicht viel besser.
Termine des Tages
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Historisches Bild
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Zum Schluss
Ich wünsche Ihnen einen guten Start in die Woche. Morgen schreibt wieder Florian Harms für Sie.
Ihr Johannes Bebermeier
Politischer Reporter
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Mit Material von dpa.
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