Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.These vom Weltkrieg alle 70 Jahre Ist es wieder so weit?
Manche Historiker vertreten die These, dass alle 70 Jahre ein großer Krieg kommt. Weil die Menschheit dessen Schrecken entgegen aller Beteuerungen wieder vergisst und verdrängt. Ist die aktuelle Lage ein Beleg dafür?
Bitte jetzt nicht lachen, aber schon lange, beginnend mit dem wieder und wieder faszinierten Hören von Deep Purples "Made in Japan"-Livealbum von 1972, bin ich der festen Überzeugung, dass der Rock 'n' Roll in unsere industrialisierte Hochleistungs- und Hochspannungsgesellschaft gekommen ist, um Aggressionen auf friedliche Weise in schieres Glück zu verwandeln. Im Zentrum: Die elektrisch verzerrte Gitarre als friedliches Gewehr.
Dieser Tage sah ich mich in dieser These an einem Abend in der Arte-Mediathek bestärkt. Dort steht der Mitschnitt der legendären "Live at River Plate"-Konzerte von AC/DC von Dezember 2009 zur Verfügung. Drei Abende, 200.000 Zuschauer in einem riesigen Fußballstadion in Buenos Aires. Ein überwältigendes Ereignis, ein Lustfest aus Musik und Licht unter Vollmond. Wogende, im Rhythmus der unwiderstehlichen Riffs von Malcolm Young hüpfende Menschenmassen, verschwitzte, glückliche Gesichter junger Frauen im AC/DC-Büstenhalter auf den Schultern eines Kerls. Pogo tanzende, sich fröhlich-freudig rempelnde Jungmännergrüppchen. So geht Aggressionsabfuhr ohne Gewalt. Ohne Krieg.
Zur Person
Christoph Schwennicke ist Politikchef und Mitglied der Chefredaktion von t-online. Seit fast 30 Jahren begleitet, beobachtet und analysiert er das politische Geschehen in Berlin, zuvor in Bonn – für die "Süddeutsche Zeitung", den "Spiegel" und das Politmagazin "Cicero", dessen Chefredakteur und Verleger er über viele Jahre war. Jeden Donnerstag erscheint hier seine Kolumne "Einspruch!"
Vielleicht sollte Wladimir Putin mehr AC/DC hören und mal zu einem Konzert der Band gehen. Die Gelegenheit könnte sich bald ergeben. Es geht das Gerücht, sie gingen 2024 auf Welttournee. Der Münchner Oberbürgermeister hat sich dahingehend verplappert und offenbar ein Geheimnis ausgeplaudert.
Putin, dieser derzeit größte Schrecken der Welt, lebt seine Aggressionen in einem fürchterlichen Krieg gegen die Ukraine aus. Bald zwei Jahre geht das schon, Zigtausende Tote auf beiden Seiten hat er bereits gekostet. Ohne Aussicht auf ein baldiges Ende. Schlimmer noch: Dieser Krieg muss an den Grenzen der Ukraine nicht enden. Das Aggressionspotenzial Putins reicht weit über dieses Riesenland hinaus. Bis mitten hinein nach Kerneuropa.
Putins Trauma
Der russische Diktator, der sich bald wieder wählen und die wenigen Gegenkandidaten alle aus dem Weg räumen lässt, ist traumatisiert. Aus seinem Trauma erwachsen diese grenzenlose Wut und seine Aggressivität. Putin hat den Untergang der Weltmacht Sowjetunion nie verkraftet. Er gibt dem Westen die Schuld daran und nimmt nun Rache.
Der streitbare, aber von mir verehrte Historiker Eric Hobsbawm hat in seinem Hauptwerk "Das Zeitalter der Extreme – Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts" dieses Trauma, den Zerfall des sowjetischen Großreiches, brillant aufgeschrieben. Er vollzieht nach, wie Michail Gorbatschow ("Charmant, aufrichtig und zutiefst von den Idealen des Kommunismus durchdrungen") mit der Gleichzeitigkeit von Perestroika und Glasnost, also Umbau und Freiheit, das Gute zu schnell wollte und das Grauen und den Zerfall herbeiführte, die Sowjetunion dem rasenden Ausverkauf des Kapitalismus aussetzte. "Die Sowjetunion unter Gorbatschow", konstatiert der Marxist Hobsbawm, "stürzte genau in diesen klaffenden Abgrund zwischen Glasnost und Perestroika."
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Wir im Westen lieben Gorbatschow dafür, dass er die Zeit der Blockkonfrontation beendet hat, Deutschland wieder eins werden konnte. Putin aber hasst ihn dafür. Und tut alles, um das in seinen Augen zerstörerische Werk Gorbatschows wieder rückgängig zu machen. Zurückzukommen zu einem Großrussland mit einer zentral organisierten Wirtschaft. Genau das könnte der eigentliche, der tiefere Grund für Putins Kriegslüsternheit sein. "Wird es je eine Rückkehr zu diesem Experiment geben?", fragt Hobsbawm im Kapitel über den "Erdrutsch" des Kommunismus in der Sowjetunion. Wohl nicht in dieser Form und auch in keiner anderen, beantwortet er seine rhetorische Frage – "es sei denn unter den Bedingungen einer totalen Kriegswirtschaft".
Geht es vor allem um die Kriegswirtschaft?
Geschrieben wurde das im Jahr 1994. Da waren es noch fünf Jahre bis zu Putins erster Präsidentschaft. Aber genau so ist es gekommen. Und der Gedanke ist zulässig: Dieser Krieg dient nicht nur der Expansion des russischen Reiches. Er dient auch dazu, den Oligarchen, die Putin ungefähr so hasst wie Gorbatschow, ihre Beute wieder zu entreißen. Mit der Kriegswirtschaft wieder die staatliche Kontrolle über die Produktionsmittel zurückzubekommen.
Und leider, muss man sagen, geht dieser Plan bisher auf. Die westlichen Sanktionen zeigen keine echte Wirkung, stattdessen läuft die russische Kriegswirtschaft auf Hochtouren; es ist nirgendwo abzusehen, dass Putin die Soldaten oder die Waffen ausgingen. Menschen und Material hat er in Hülle und Fülle. So tapfer die Ukraine auch dagegenhält. Und so sehr der Westen das verzweifelt kämpfende Land mit seinen Waffen unterstützt.
Hobsbawm wird auch die Aussage zugeschrieben, dass es ein Muster in der jüngeren Weltgeschichte gebe. Dass es demnach alle 70 Jahre beinahe naturgesetzlich zu einem großen Krieg komme, weil sich innerhalb dieser Zeit die Aggressionen wieder aufgestaut hätten und trotz aller anderslautenden Schwüre das Vergessen des vergangenen Grauens einsetze. (Den Ersten und den Zweiten Weltkrieg betrachtet er da als einen).
"Die Torheiten der Väter sind für ihre Kinder verloren"
Nach dem ersten globalen Krieg auf europäischem Boden, dem Siebenjährigen Krieg, notierte derjenige, der ihn vom Zaun gebrochen hatte, in Anbetracht von 180.000 Toten: Es werde nun eine Erholung kommen. Aber dann würden "andere Ehrgeizige" neue Kriege heraufbeschwören und neues Unheil verbreiten, schrieb Friedrich der Große in seiner "Geschichte des Siebenjährigen Krieges" Ende des Jahres 1763. Denn es sei "eine Eigenschaft des menschlichen Geistes", dass Beispiele niemanden irgendetwas lehrten. "Die Torheiten der Väter sind für ihre Kinder verloren; jede Generation muss ihre eigenen machen."
Und der nächste Ehrgeizige kam. Es dauerte genau 43 Jahre, bis Napoleon auf seinen europäischen Feldzügen in Potsdam angekommen war und Friedrich II. am 25. Oktober 1806 an dessen Sarg in der Krypta der Garnisonkirche seine Reverenz erwies.
Seither gab es weitere "Ehrgeizige", die Krieg und Verheerung über die Welt und im Zentrum über den europäischen Kontinent gebracht haben. Der aktuelle sitzt in Moskau und lässt bisher nicht ab von seinem verheerenden Tun.
Ist es also wieder so weit? Die Gedenkfeiern zum 70-jährigen Ende des Zweiten Weltkriegs sind bald acht Jahre her. Ich hoffe inständig, dass sich Hobsbawm und Friedrich der Große geirrt haben. Und AC/DC nicht nur dieses Jahr, sondern auch danach noch viele Lustfeste des Rock ’n’ Roll feiern, in einer halbwegs friedlichen Welt.
Aber sicher ist das leider nicht. Wir leben nicht in Friedenszeiten. Das hat der Bundeskanzler diese Woche gesagt, beim Spatenstich für eine Munitionsfabrik.
- Politische Schriften Friedrichs II., Eric Hobsbawms "Zeitalter der Extreme", Arte-Mediathek, eigene Überlegungen