Postenpoker in Brüssel Ohne Merkel läuft nichts
Bereits am Abend der Europawahl hat das Tauziehen um das Amt des EU-Kommissionspräsidenten begonnen: Eine erstarkte SPD pocht vorsorglich auf ein gewichtiges Mitspracherecht bei der deutschen Linie für die anstehende Postenvergabe in Brüssel. Schon heute Abend treffen sich die Spitzen von Union und SPD im Kanzleramt. Entscheiden werden allerdings die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsstaaten - und die kommen an der mächtigen Kanzlerin nicht vorbei.
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Der CDU-Politiker Elmar Brok forderte derweil die SPD auf, den Spitzenkandidaten der europäischen Konservativen, Jean-Claude Juncker, als Bewerber mitzutragen.
SPD soll Juncker unterstützen
"Es ist üblich, dass der Vertreter der stärksten Partei gefragt wird. Und das ist Jean-Claude Juncker", sagte der Europaparlamentarier Brok. "Die SPD muss Juncker mit vorschlagen."
Mit dem Sieg des konservativen Parteienblocks Europäische Volkspartei (EVP) sind die Chancen des luxemburgischen Ex-Premiers Juncker zwar gestiegen, allerdings fehlt ihm die nötige Mehrheit. Vorsorglich sucht er schon Unterstützung in anderen Lagern und hält eine Unterstützung seiner Kandidatur durch Sozialdemokraten und Grüne für gut möglich.
Juncker betonte: "Es ist mir nicht bange, dass ich Schnittmengen mit den Sozialisten und mit anderen zustande bringen werde, ohne mich auf die Knie zu werfen." Er gehe nicht davon aus, "dass man jetzt alles in dunklen Zimmern tun wird, um zu verhindern, dass der Wahlsieger mit dem Auftrag versehen wird, die Kommission zu bilden."
Gabriel hält an Schulz fest
SPD-Chef Sigmar Gabriel beanspruchte bereits am Sonntagabend das Amt für die nur wenig zurückliegende Sozialdemokratische Partei Europas (SPE) und ihren Spitzenkandidaten: "Das Wahlergebnis hat einen Namen, und der lautet Martin Schulz", sagte er.
Der bisherige EU-Parlamentspräsident Schulz selbst kündigte an, sich um entsprechende Mehrheiten zu bemühen. Die Staats- und Regierungschefs, die den Kommissionschef vorschlagen, müssen das Wahlergebnis berücksichtigen. Eine Entscheidung kann Wochen dauern.
SPD-Linke warnt Merkel
Die SPD warnte die "Chefs" davor, Dritte als Kompromisskandidaten ins Spiel zu bringen. Nur jemand, der bei der Wahl als Spitzenkandidat angetreten sei, könne den Posten bekommen, sagte der Vizevorsitzende Ralf Stegner. "Alles andere wäre eine Belastungsprobe für die europäische Demokratie."
Stegner fügte hinzu: "Ich würde Frau Merkel nicht raten, jemanden für das Amt des EU-Kommissionspräsidenten vorzuschlagen, der dann vom Parlament nicht gewählt wird."
Der Vorsitzende der Linkspartei, Bernd Riexinger, forderte Schulz zu Verhandlungen auf. "Wir haben klare Bedingungen an alle, die unsere Stimmen wollen. TTIP stoppen, Schluss mit den Kahlschlagprogrammen der Troika, Einstieg in die Sozialunion", sagte er der "Mitteldeutschen Zeitung" mit Blick auf das geplante Freihandelsabkommmen mit den USA (TTIP) und die Auflagen von EU, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds für Griechenland.
Mächtige Merkel
Die Parteichefs von Union und SPD, Angela Merkel (CDU), Horst Seehofer (CSU) und Sigmar Gabriel (SPD), wollen am Abend im Kanzleramt über die Lage beraten. Die Unionsführung dürfte auch durch das erfolgreiche Abschneiden der euroskeptischen Alternative für Deutschland (AfD) beunruhigt sein.
Am Dienstag vertritt Merkel Deutschland auf dem Treffen des Europäischen Rats der Staats- und Regierungschefs. Der trifft die Entscheidung über den Chefposten der EU-Kommission, den Juncker und Schulz für sich reklamieren.
Die Gruppe soll sich zwar an dem EU-Wählervotum orientieren, doch am Ende krönt der Rat den neuen EU-Kommissionspräsidenten. Hier dürfte die Kanzlerin - die vom US-Magazin "Forbes" 2013 zum "Rückgrat" der EU erklärt und zur mächtigsten Frau der Welt gekürt wurde - ihren Einfluss geltend machen.
Vorläufiges amtliches Endergebnis
Bei der Europawahl hatten die Unionsparteien in Deutschland ihre Vorrangstellung verteidigt. Wegen herber CSU-Verluste erreichten sie nach dem vorläufigen Endergebnis aber nur 35,3 Prozent - ihr bislang schlechtestes Europa-Ergebnis und auch weniger als bei der Bundestagswahl im September.
Die SPD kletterte auf immerhin 27,3 Prozent. Die Grünen sackten auf 10,7 Prozent ab. Die Linke stagnierte bei 7,4. Die AfD schaffte es bei ihrer ersten Europawahl gleich auf 7,0 Prozent. Und die FDP stürzte nun auch auf EU-Ebene und kam auf 3,4 Prozent.
Deutsche Kleinparteien ergattern Sitze
Damit ergibt sich folgende deutsche Sitzverteilung im Straßburger Parlament: CDU/CSU 34 Mandate, SPD 27, Grüne 11, Linke 7, FDP 3 und AfD 7. Außerdem erhalten wegen des erstmaligen Wegfalls der Sperrklausel sieben Kleinparteien je einen Sitz: die rechtsextreme NPD, die Piratenpartei, Freie Wähler, Tierschutzpartei, Familienpartei, ÖDP und "Die Partei". Die Bundesrepublik als größtes EU-Land stellt 96 der künftig 751 EU-Parlamentarier. Sie sind für fünf Jahre gewählt.
Europaweit hatten bei der Wahl in allen 28 EU-Ländern Extremisten und Populisten stark zugelegt: In Frankreich und Dänemark wurden Rechtsaußen-Parteien stärkste Kraft, in Griechenland Linksradikale.