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Psychokrise: Sind wir alle seelisch weniger stabil als früher?


"Gesund" oder "krank"
Sind wir alle seelisch weniger stabil als früher?

Eine Kolumne von Ulrike Scheuermann

Aktualisiert am 28.09.2020Lesedauer: 4 Min.
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Psychiatrische Diagnostik: Die Erkenntnis "Ich bin nicht allein damit" kann eine große Hilfe sein.Vergrößern des Bildes
Psychiatrische Diagnostik: Die Erkenntnis "Ich bin nicht allein damit" kann eine große Hilfe sein. (Quelle: Panthermedia/imago-images-bilder)

In den letzten Jahren hat sich die Sicht auf die Psyche verändert. Das heißt auch: Was früher "normal" war, gilt heute als "krank". Gibt es eine Inflation psychiatrischer Diagnosen? Eine Erklärung der vermeintlichen Psychokrise.

Vor einiger Zeit hielt ich einen Vortrag über Trauer. Danach kam einer der Teilnehmer zu mir und erzählte von seiner vor acht Jahren verstorbenen Frau: "In Gedanken spreche ich mit ihr, das ist manchmal schön, aber auch traurig. Ich vermisse sie sehr, wir waren ein gutes Paar."

Ist dieser "dauertrauernde" Mann nun gesund oder krank? Sein Verhalten sprach nicht für eine psychische Störung. Er sprach liebevoll über seine Frau und zeigte offen seine Trauer. Wir unterhielten uns eine Weile. Über die Trauer konnte er offensichtlich gut in Kontakt mit anderen Menschen wie mit mir sein.

Auch die Trauerforschung zeigt: Es gibt keinen immer gleichen Verlauf von Trauer. Die Bandbreite der Reaktionen ist vielfältig. Jedoch: Nach dem sogenannten Diagnostischen und Statistischen Manual psychischer Störungen (DSM) kann sogar schon eine mehr als zweiwöchige Trauer als behandlungsbedürftige Depression diagnostiziert werden.

Schon nach zwei Wochen. Das scheint erst einmal dem gesunden Menschenverstand zu widersprechen. Wie kann es zu diesen Diagnosen kommen?

Die Definition psychiatrischer Diagnosen

Psychische Krankheiten werden im DSM und in der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten (ICD) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) beschrieben und klassifiziert. Die beiden Diagnosesysteme beeinflussen weltweit die psychiatrische Diagnostik und Therapiepraxis sowie die Entscheidungen von Krankenkassen, Versicherungen und Gerichten.

Verbitterung, eine Emotion, die wie Angst jeder kennt, wird neuerdings in einer ausgeprägten Form als Krankheit eingestuft. So wie diese kommen und gehen Krankheitsbilder, die die Psyche betreffen, im Laufe der Zeit. Die "Hysterie" etwa, die im letzten Jahrhundert noch für viele Patienten diagnostiziert wurde, gilt in der medizinischen Fachsprache heute weitgehend als veraltet.

Neue Diagnose bei psychischen Krankheiten: Wie wirkt sich das aus?

Antworten darauf gibt zum Beispiel Allen Frances, er zählt zu den einflussreichsten Psychiatern weltweit und war Mitautor früherer Ausgaben des DSM. Heute kritisiert er die immer umfassenderen Diagnosen im DSM scharf.

Alltägliche und bisher als zum Leben gehörend akzeptierte Seelenzustände können inzwischen als "milde" Störung eingestuft werden, häufige Wutausbrüche von Kindern etwa als "Stimmungsregulationsstörung", die Tage vor den Tagen bei Frauen als "prämenstruelle dysphorische Störung".

In seinem weltweiten Bestseller "Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen" beschreibt er die dramatischen Auswirkungen der veränderten Einordnung von Gefühlsreaktionen als krankhafte Störungen: In den USA liege zum Beispiel nach Erscheinen des DSM die Zahl der Diagnosen nun 20-mal höher als davor.

Auch wenn diese Zahlen nicht eins zu eins auch in Deutschland gelten: Ich will damit zeigen, dass Krankheitsdiagnosen im Bereich der Psyche nichts Eindeutiges und Feststehendes sind. Multiple Sklerose oder eine Grippe sind Krankheiten, da sind wir uns wohl einig. Aber bei psychischen Krankheiten changiert die Definition als Krankheit oftmals viel mehr. Das bedeutet, wir sind mehr gefordert, auch selbst Verantwortung zu übernehmen und abzuwägen: Wo hilft (mir oder anderen) eine Krankheitsdiagnose? Was sind aber auch die Gefahren und Nachteile?

Psychiatrische Diagnostik: Was hilft? Was ist kritisch zu sehen?

  • Erleichterung
    Der eigene Zustand hat einen Namen, das entlastet oftmals von Schuldgefühlen: "Ich habe eine Depression, ich bin nicht einfach nur faul und träge." Manche dachten vorher auch, nur sie würden unter diesem Problem leiden. Eine solche Erkenntnis "Ich bin nicht allein damit" kann eine große Hilfe sein.
  • Bessere Informationsmöglichkeiten
    Erst wenn der eigene Zustand einen Namen hat, kann man sich über Ursachen, Verlauf, Therapiemöglichkeiten informieren. Man gewinnt Handlungsmöglichkeiten und kann konkret etwas tun, um seinen Zustand zu verbessern.
  • Weniger Fehldiagnosen und -therapien
    Ein Beispiel ist die "Posttraumatische Verbitterungsstörung": Bevor es diese Diagnose gab, wurden die Symptome bei der Diagnosestellung zuweilen als Depression eingeschätzt und dementsprechend falsch behandelt.

Kritisch an der Tendenz, immer mehr psychische Zustände als Krankheit einzustufen, sind zum Beispiel die folgenden Punkte:

  • Identifikation und Stigmatisierung
    Wenn eine starke Autorität wie etwa ein Arzt, eine Diagnose stellt, ist es schwer, sich nicht damit zu identifizieren. Man kann sogar aufgrund einer solchen Identifikation Symptome entwickeln. Es kann schwer sein, sich für gesund zu halten, wenn man als krank eingestuft wird. Denn wer einmal eine Diagnose zugeschrieben kommen hat, kommt davon nicht so leicht wieder weg: Man selbst weiß um die Diagnose und definiert sich darüber, andere ebenfalls. Die Diagnose "Depression" etwa kann jemanden in Diskredit bringen, ihm also in seinem Ansehen, etwa unter Kollegen, schaden.
  • Verantwortung abgeben
    Betroffene können leichter sagen: "Ich bin ja krank. Ich kann ja nichts dafür. Ich kann mir jetzt alles erlauben, nehmt Rücksicht auf mich." Das kann Vor- und Nachteil sein.
  • Abschieben aufs Individuum
    Immer mehr gesellschaftliche und soziale Probleme wie Armut, Arbeitslosigkeit, Enttäuschungen oder eben auch Trauer werden pathologisiert und damit in den Bereich der Psychiatrie geschoben. Die Grenzlinie zwischen "gesund" und "krank" wandert immer mehr in Richtung krank, auch in den Statistiken. Dann richtet sich das Augenmerk mehr auf die psychischen Defizite des Einzelnen und man kann leicht vergessen, dass zum Beispiel die sozialen Missstände die Ursache sind.

Bin ich "krank" oder "gesund?" – Diese Fragen können helfen

Häufige Reaktionen auf Belastungssituationen sind Gefühle der Traurigkeit, Angst oder starken inneren Anspannung, die zeitbegrenzt auch sehr stark sein können. Sie klingen meist nach einer gewissen Zeit wieder ab. Dann spricht das eher nicht für eine Krankheit.

Wenn Sie die folgenden Antworten mit Ja beantworten, könnte diese für "krank" sprechen und man sollte das Gespräch mit anderen und schließlich auch professionelle Hilfe suchen. Das ist natürlich hier nur sehr allgemein gehalten, kann Ihnen aber eine grobe Orientierung geben:

  • Kann ich meinen Alltag immer schwerer bewältigen?
  • Ist zum Beispiel die Belastung andauernd so stark, dass meine Beziehungen darunter leiden und andere sich von mir zurückziehen? Da tragfähige Beziehungen und Eingebundensein in Gemeinschaft zu den wichtigsten Gesundheitsfaktoren zählen, ist das ein wichtiges Warnsignal.
  • Wird es schlimmer statt besser? Fühle ich mich dauerhaft psychisch belastet, etwa ängstlich oder niedergeschlagen sind oder leide ich dauerhaft an körperlichen Beschwerden, für die sich keine organischen Ursachen finden lassen?
Transparenzhinweis
  • Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.
Verwendete Quellen
  • Allen Frances: Normal. Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen, DuMont, 2014
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