Das steckt dahinter Am Kryptomarkt droht die Kettenreaktion
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Talfahrt für den Erfolgshelden: Kryptowährungen wie Bitcoin taumeln weiter abwärts. Das könnte eine Kettenreaktion auslösen.
Mitten im Sommer herrscht am Kryptomarkt trübe Winterstimmung. Die Euphorie des vergangenen Jahres sucht man dieser Tage vergebens. Erst vor Kurzem hat der Bitcoin die Grenze von 20.000 US-Dollar gerissen, im vergangenen Jahr erreichte die wichtigste Kryptowährung mit knapp 69.000 Dollar noch einen neuen Allzeitrekord.
Davon ist aktuell keine Rede mehr. Zwar hat sich der Coin zumindest wieder über die mentale Marke von 20.000 Dollar bewegt, aber die Lage bleibt fragil. "Der Bitcoin befindet sich nach wie vor in einem Abwärtsstrudel und tut sich schwer, sich zu befreien. Der jüngste vermeintliche Befreiungsschlag dürfte sich womöglich als ein Strohfeuer entpuppen", sagt Kryptoanalyst Timo Emden.
Fest steht: Viele Kryptowährungen müssen aktuell gegen viele Widerstände kämpfen, denn es ist ein vielseitiges Gemisch, das die Märkte aktuell unter Druck setzt. t-online zeigt die Gründe für die aktuelle Kryptokrise und wie sich die Gemengelage weiterentwickeln könnte.
1. Die Unsicherheiten rund um Terra (Luna) und Celsius
Der Markt hat sich noch nicht von der einen Krise erhöht, da erschüttert bereits die nächste Negativschlagzeile die Branche. Im vergangenen Monat kollabierte der Stablecoin UST des Terra-Luna-Systems und vernichtete innerhalb weniger Tage einen zweistelligen Milliardenbetrag.
Dabei galt der Stablecoin eigentlich als besonders sicher, da er die Wertentwicklung des Dollars nachbilden sollte – dennoch war der Kurs, anders als bei anderen Stablecoins, nicht durch Dollarreserven oder Anleihen gedeckt. Die Währung versuchte, sich allein durch einen Algorithmus abzusichern, der die Bindung an den Dollarkurs garantieren sollte (mehr zum Crash lesen Sie hier).
Doch im Mai brach dieser Algorithmus zusammen und konnte die Bindung zum Dollar nicht mehr halten, der UST rutschte ab und vernichtete Milliarden. "Davon spüren wir nach wie vor die Auswirkungen, viele große Player im Krypto-Bereich hatten hier Positionen", erklärt Maximilian Bruckner vom Schweizer Investmentberater 21e6 Capital, der sich auf Kryptoanlagen für institutionelle Anleger spezialisiert hat.
"Bei solchen Events drohen Kettenreaktionen"
Auch wenn Terra (Luna) nicht so beliebt war wie Bitcoin oder Ethereum – in der Branche hatte das System große Bekanntheit und genoss Vertrauen. Dadurch schlug der Absturz umso heftiger in den Markt ein und ließ auch andere Währungen und Dienstleister straucheln.
Einer der großen Wackelkandidaten ist aktuell der Dienstleister Celsius. Das Netzwerk bietet Kunden an, Darlehen in Kryptowährungen zu erhalten oder die eigenen Kryptowährungen gegen Zinsen zu verleihen. Eine Besonderheit des Anbieters war, dass Kunden Kredite in Dollar aufnehmen konnten und dafür ihre Kryptowährungen hinterlegt haben. Sie mussten also nicht ihre Kryptowährungen verkaufen und so mögliche Kurszuwächse in der Zukunft aus der Hand geben oder Steuern auf ihre Gewinne zahlen.
Doch der Terra-Luna-Crash hat auch Celsius in Bedrängnis gebracht. Nutzer können zum Beispiel keine Beträge mehr von ihren Konten abheben: So versucht das Unternehmen, die Liquidität zu bewahren. Doch viele Anleger sind skeptisch, ob das reicht. "Das Geschäftsmodell wackelt extrem, es wird von einer Insolvenz gesprochen", sagt auch Bruckner.
2. Starke Hebel an den Märkten
Die strauchelnden Coins haben deswegen auch eine solche Wirkung auf den Markt, da viele Anleger ihre Positionen gehebelt haben. "Bei solchen Black Swan Events drohen durch die starke Hebelung Kettenreaktionen", erklärt Bruckner.
In einem Bullenmarkt, in dem es im vergangenen Jahr nur bergauf ging, waren damit große Gewinne einzufahren. In einem Bärenmarkt schlagen diese Hebel aber in die umgekehrte Richtung umso stärker ein. Denn wenn es bei einem stark gehebelten Produkt zu rasanten Kurseinbrüchen kommt, folgen sogenannte Margin Calls, erklärt Michael Geike, CEO des Krypto-Venture-Unternehmen Blockchain AG, im Gespräch mit t-online.
Der Herausgeber, bei dem die Anleger das gehebelte Produkt auf Margin, also auf Pump gegen eine Sicherheitsleistung, gekauft haben, verlangt in diesem Fall eine höhere Sicherheit.
Kann der Anleger diese Sicherheit nicht geben, verkauft der Herausgeber das Produkt, etwa Coins einer Kryptowährung. Dadurch wird der Preis weiter in die Tiefe gedrückt und andere Anleger geraten unter Druck, ihre Positionen ebenfalls zu verkaufen.
Dabei können nicht nur Privatanleger ins Straucheln geraten, sagt Experte Bruckner: "Einer der größten Krypto-Fonds, Three Arrows Capital, hat genau dieses Problem." Weitere Kurseinbrüche könnten in diesem Fall schwere Konsequenzen haben. "Dadurch droht weiterer Verkaufsdruck und Liquidationen in Milliardenhöhe", so Bruckner. Das Gebot der Stunde am Kryptomarkt lautet daher vor allem Eindämmung – damit nicht noch weitere Steine ins Rollen kommen.
3. Die Sorge um Ether
Mitten in der Sorge um eine Kettenreaktion gibt es auch noch Unsicherheiten bei einem der Giganten des Marktes. Ethereum war ein großer Hoffnungsträger in den vergangenen Wochen, da die zweitgrößte Kryptowährung von dem energieintensiven "Proof of work"-Verfahren auf das "Proof of Stake"-Verfahren umschalten wollte, das nur einen Bruchteil der Energie benötigt und das System schneller und besser skalierbar machen sollte. Und damit auch fit für die Zukunft des Kryptomarktes.
Doch die Umstellung zu diesem wichtigen Update ist erneut verschoben worden – ursprünglich sollte die zweitgrößte Währung schon längst auf dem neuen System laufen. Das Verschieben zeigt erneut: Die Umstellung ist ein "wahnsinnig komplexes Unterfangen", so Experte Bruckner.
Das schürt die Unsicherheit bei den Anlegern. Könnte das Update womöglich nach so langer Wartezeit schiefgehen? Droht der zweitgrößten Währung nach der Umstellung gar ein technischer Kollaps? Diese Sorgen lassen Anleger in der Krisenzeit verstärkt aus der Währung fliehen – dabei könnte Ether stark wieder an Wert gewinnen, sollte die Umstellung erfolgreich verlaufen.
4. Trübsal an allen Börsen
Nicht nur der Kryptomarkt verzeichnet aktuell starke Verluste. Auch die klassischen Aktienmärkte sehen sich einem Bärenmarkt gegenüber. Im Bullen-und-Bären-Indikator der Bank of America ist die Stimmung der Anleger von 10 auf eine 0,0 gefallen – an der Börse herrscht also maximaler Pessimismus. Zuletzt erreichte der Indikator so niedrige Werte wie etwa zum Tiefpunkt der Corona-Krise, während der Finanzkrise oder der Dotcom-Blase.
Wenn also der Pessimismus an den Börsen herrscht, merken das zuerst die hochriskanten Anlageklassen. Investoren neigen in solchen Krisenzeiten vor allem zu sogenannten Value-Aktien. Das Motto in der Unsicherheit ist: keine Experimente. Und genau das sind Kryptowährungen.
Es ist daher nicht verwunderlich, dass Investoren besonders hier den Rotstift angesetzt haben. Verstärkend kommt hinzu, dass viele Anleger erst vor Kurzem in den Markt eingestiegen sind, um in der Bullenstimmung so viel Gewinne wie möglich aus der volatilen Anlageklasse zu drücken.
"Wir sind hier einfach noch nicht so weit"
Aber wo es schnell hinauf geht, geht es auch ebenso schnell bergab. Zwar haben Optimisten in der Kryptobranche im Bullenmarkt noch auf die große Adaption institutioneller Anleger verwiesen, aber nun zeigt sich: "Wir sind hier einfach noch nicht so weit", erklärt Bruckner, der in seinem Beruf täglich mit möglichen Investoren spricht.
Das Interesse sei zwar hoch, aber in Deutschland sind bisher kaum große Institutionen investiert. In den USA sei der Markt da schon einen Schritt voraus, aber auch nicht ausreichend, um die Branche vor großen Abstürzen zu bewahren.
Die Angst um rasche Zinssteigerungen befeuern die Sorge der Anleger noch zusätzlich, betont Kryptoanalyst Emden. Anleger vermeiden vorerst das Risiko und das bedeutet: Sie scheuen Bitcoin und Co. Eine schnelle Erholung in den Bullenmarkt dürfen Anleger daher nicht erwarten.
- Eigene Recherche
- Gespräch mit Maximilian Bruckner, 21e6-Capitol
- Gespräch mit Michael Geike
- Schriftliches Statement von Timo Emden