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Georgien: Wie die Bevölkerung gegen das "russische Gesetz" protestiert


Schwere Proteste gegen "russisches Gesetz"
"Befürchte, dass es sehr blutig werden könnte"


18.05.2024Lesedauer: 5 Min.
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Georgische Polizisten in Tiflis: Seit Wochen kommt es immer wieder zu Ausschreitungen mit Demonstranten. (Quelle: Martin Pedaja/imago-images-bilder)

Mit einem neuen Gesetz könnte die Regierung in Georgien Oppositionelle im Land mundtot machen. Das Vorhaben erinnert an ähnliche Maßnahmen in Russland. Gibt das Land jetzt seinen pro-westlichen Kurs auf?

Die Bilder vor dem Parlamentsgebäude in Tiflis sind fast schon alltäglich. Seit Wochen versammeln sich tausende Demonstranten in der georgischen Hauptstadt, um gegen ein umstrittenes Gesetzvorhaben der Regierung zu protestieren. Allein am vergangenen Mittwoch sollen es rund 30.000 Menschen gewesen sein. Die Polizei hatte dabei auch schon Wasserwerfer und Gummigeschosse eingesetzt.

Am Dienstag kam es allerdings nicht nur vor, sondern auch im Parlamentsgebäude zu Handgreiflichkeiten: Aufnahmen zeigten, wie sich zahlreiche Parlamentarier schubsten und aufeinander losgingen. Am Ende wurde das viel diskutierte Gesetz allerdings mit einer großen Mehrheit beschlossen: Künftig müssen Organisationen, die mehr als 20 Prozent ihrer Gelder aus dem Ausland erhalten, sich als "Agenten ausländischer Einflussnahme" registrieren lassen.

Video | Tumulte in Parlament: Abgeordnete gehen aufeinander los
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Quelle: reuters

Die Regierung spricht davon, durch das Gesetz für mehr Transparenz zu sorgen. Die vielen Demonstranten sehen dagegen darin ein neues Instrument, Oppositionelle in dem Land mundtot zu machen. Daher wird das Gesetz auch als "russisches Gesetz" bezeichnet. Die georgische Präsidentin Salome Surabischwili hatte zwar am Samstag ein Veto gegen das Vorhaben eingelegt. Das Parlament kann sie allerdings mit einer weiteren Abstimmung überstimmen. Auch die Türkei hatte zuletzt angekündigt, ein ähnliches Gesetz zu planen.

Ein ehemaliger Sowjetstaat, in dem Russland zwei Regionen kontrolliert, wird von Massenprotesten aufgrund umstrittener Entscheidungen der Regierung heimgesucht: Wer sich die Situation in Georgien aktuell anschaut, könnte leicht Parallelen zur Situation in der Ukraine zu Beginn der sogenannten Euromaidan-Proteste ziehen. Droht das Land jetzt tatsächlich in einen ähnlichen Konflikt gezogen zu werden und seinen Anschluss an den Westen wieder zu verlieren?

Oppositionelle, Medien, NGOs

Grundsätzlich sind die Parallelen zu vergleichbaren Maßnahmen in Russland nicht zu übersehen. 2012 begann der Kreml damit, Organisationen, die politisch tätig sind und aus dem Ausland finanziert wurden, als sogenannte ausländische Agenten zu kennzeichnen. Später wurde das Gesetz ausgeweitet: Mittlerweile kennzeichnet der Kreml auch Einzelpersonen. Dafür reicht auch schon eine "Beeinflussung" durch das Ausland – oder besser gesagt das, was der Kreml darunter versteht. Auf der russischen "Agentenliste" stehen unter anderem der Oppositionelle Michail Chodorkowski, die unabhängige Zeitung "Moscow Times" oder die Umweltschutzorganisation WWF.

Der Druck auf Oppositionelle hat in Georgien allerdings auch ohne das Gesetz in den vergangenen Monaten zugenommen. Verschiedene Politiker berichteten zuletzt dem Nachrichtenportal "Politico" von Einschüchterungsversuchen und tätlichen Angriffen: Anfang des Monats wurde etwa der Oppositionspolitiker Dimitri Chikovani von mehreren Unbekannten in der Nähe seines Hauses zusammengeschlagen. Aufnahmen einer Überwachungskamera zeigen, wie mehrere Personen auf den am Boden liegenden Politiker einschlugen. Dabei erlitt er unter anderem eine Gehirnerschütterung und eine gebrochene Nase.

Doch warum genau will die georgische Regierung jetzt stärker gegen Oppositionelle vorgehen? Stefan Meister, Osteuropaexperte der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), sieht in dem Gesetz eine Gefahr: "Die Sorgen der Zivilgesellschaft sind in Georgien absolut berechtigt", sagt Meister im Gespräch mit t-online. Die Regelung ziele dabei vor allem auf die Zivilbevölkerung und die freien Medien ab: Die seien nämlich auf ausländische Gelder bei ihrer Arbeit angewiesen. Die oppositionellen Parteien seien dagegen zu zerstritten und gespalten, sodass sie aktuell für die Regierungspartei "Georgischer Traum" keine Gefahr sind.

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(Quelle: imago-images-bilder)

Zur Person

Dr. Stefan Meister ist Leiter des Zentrums für Ordnung und Governance in Osteuropa, Russland und Zentralasien der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). Davor war er unter anderem Direktor des Südkaukasus Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in Tiflis (2019-21).

Schon im vergangenen Jahr hatte die Regierung einen ersten Vorstoß zu dem Gesetz unternommen, das Bestreben allerdings nach den ersten Massenprotesten wieder zurückgezogen. Dass sie gerade jetzt einen zweiten erfolgreichen Anlauf nahm, ist laut Stefan Meister kein Zufall: "Der Zeitpunkt für das Gesetz ist perfekt gewählt" – und das aus gleich mehreren Gründen. Aufgrund des Europa-Wahlkampfes ist gerade aus Brüssel wenig Gegenwind zu erwarten. Die Parlamentarier sind zu sehr mit den Wahlen beschäftigt und die EU-Kommission wird sich nach der Abstimmung ebenfalls neu formieren.

Zudem hat gerade Ungarn die Präsidentschaft im Rat inne, das aufgrund seiner eigenen autoritären Regierung kaum Kritik an den Vorhaben äußern wird. Balász Orbán, politischer Berater des Ministerpräsidenten Viktor Orbán, teilte am Freitag auf X mit, dass sich die ungarische Regierung im Gegenteil für eine vergleichbare Regelung im gesamten EU-Raum einsetzen würde.

Zusätzlich wird im Oktober in Georgien ein neues Parlament gewählt. Mit dem Gesetz könnten im Vorfeld jetzt viele regierungskritische Stimmen in dem Land verstummen, wodurch für "Georgischer Traum" eine absolute Mehrheit im Parlament wahrscheinlicher werden könnte. Dadurch hätte die Regierung im Gegensatz zu heute auch die Möglichkeit, die Verfassung zu ändern.

Bevölkerung für Nato- und EU-Beitritt

Die Kritik am Kurs der Regierung ist in der Hauptstadt Tiflis und in anderen Regionen des Landes aktuell aber noch deutlich zu hören. Befürchtet wird von den Demonstranten nämlich auch, dass das Vorhaben mögliche Beitritte in die EU und die Nato verhindern könnte. Seit Ende 2023 ist das Land offizieller Beitrittskandidat der EU. Genauso gab es in der Vergangenheit Bestrebungen, der Nato beizutreten.

Auch wenn das Land auf dem Weg zu dem Verteidigungsbündnis zuletzt kaum Fortschritte verzeichnen konnte, ist eine breite Mehrheit der Bevölkerung für einen Beitritt zu beiden Bündnissen: Laut einer Umfrage des US-amerikanischen International Republican Institute (IRI) unterstützen 86 Prozent der Georgier einen EU-Beitritt, bei der Nato sind es 79 Prozent.

In Regierungskreisen vermutet Osteuropaexperte Meister allerdings, dass man einen Beitritt in beide Bündnisse am liebsten verhindern würde. Das spreche allerdings niemand offen aus, da man sich über die Stimmung innerhalb der Bevölkerung bewusst sei. Mit dem neuen Gesetz versuche die Regierung jetzt die EU so zu provozieren, dass diese von sich aus auf weitere Schritte zu einer Mitgliedschaft verzichten könnte. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell forderte am Mittwoch bereits, dass das Gesetz rückgängig gemacht werden müsse, da es sich ansonsten negativ auf die weiteren EU-Verhandlungen auswirken könnte.

Oligarch orientiert sich an Russland

Doch warum genau wendet sich das Land aktuell vom Westen ab? Als Drahtzieher hinter dem aktuellen Regierungshandeln wird der einflussreiche Gründer von "Georgischer Traum", Bidsina Iwanischwili, vermutet. Der Oligarch und ehemalige georgische Regierungschef gilt als inoffizieller Strippenzieher der Regierung. "Iwanischwili entscheidet alles Wesentliche, was in dem Land passiert", meint Stefan Meister. Der 68-Jährige war mit Geschäften in Russland reich geworden. Ende April hielt er zudem eine Rede, in der er eine autoritäre Wende angekündigt hatte. Kritiker hatte dem Oligarchen vorgeworfen, die Rede klang so, als sei sie zuvor im Kreml verfasst worden. Mehr über Iwanischwili lesen Sie hier.

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Stefan Meister geht allerdings nicht davon aus, dass der Oligarch direkte Instruktionen aus Moskau erhält. "Ich glaube nicht, dass Iwanischwili vom Kreml gesteuert wird." Allerdings könne der Osteuropaexperte nachvollziehen, warum sich der Parteigründer Gegner eines pro-westlichen Kurses ist: "Ein EU-Beitritt bedeutet Machtverlust, mehr Rechtsstaat, freie Wahlen und stärkere Kontrollen." Zusätzlich könne ein kremlfreundlicher Kurs möglicherweise verhindern, dass Russland ähnlich wie in der Ukraine einen neuen Krieg herbeiführt.

Umgekehrt heizt der aktuelle Kurs die Stimmung zwischen Zivilbevölkerung und den Machthabern weiter auf. "Ich befürchte, dass es sehr blutig werden könnte", glaubt DGAP-Experte Meister. Anders als etwa in Belarus sei die Stimmung in der georgischen Bevölkerung so aufgeheizt, dass ein autoritärer Kurswechsel dort kaum akzeptiert werde. "Dort wird mit Gewalt auf Gewalt reagiert."

Dass Russland allerdings ähnlich wie bei den Euromaidan-Protesten in der Ukraine eingreifen könnte, hält der Experte zurzeit für unwahrscheinlich: In Moldau oder Bergkarabach hatte es zuletzt Möglichkeiten gegeben, um russischen Truppen zu entsenden. Allerdings hat der Kreml das bisher immer vermieden. Stefan Meister vermutet, dass die russische Armee zu stark in der Ukraine gebunden sei. Ein Umdenken in Moskau sei höchstens dann denkbar, wenn der "Georgische Traum" die Wahl im Oktober verliert und das Land sich dann wieder weiter nach Westen orientiert.

Verwendete Quellen
  • Interview mit Stefan Meister
  • Mit Material der Nachrichtenagenturen dpa, AFP und Reuters
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