Zivilisationskrankheit Nummer 1 Millionen betroffen: Epidemie ohne Viren
Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Schon in der Antike kannten Ärzte Diabetes, mittlerweile ist der Typ 2 aber eine echte Epidemie. Dabei lässt sich eine Erkrankung oft vermeiden. Tipps gibt Dr. Yael Adler.
"Der Diabetes ist eine rätselhafte Erkrankung", schreibt der griechische Arzt Aretaios um 100 nach Christus. "Diabetes ist ein furchtbares Leiden, nicht sehr häufig beim Menschen, ein Schmelzen des Fleisches und der Glieder zu Harn … Das Leben ist kurz ... und schmerzvoll … und der Tod unausweichlich." Daran hat sich in den vergangenen knapp 2.000 Jahren glücklicherweise viel geändert.
Die schlechte Nachricht jedoch zuerst: Diabetes mellitus Typ 2 ist mittlerweile leider sehr häufig "beim Menschen", wie Aretaios es formuliert hätte. Er ist eine Eins-A-Zivilisationskrankheit, an der ungefähr jeder zehnte Erwachsene in Deutschland leidet. Und die Zahl der Erkrankten wird bis zum Jahr 2040 um 77 Prozent, auf etwa zwölf Millionen Patienten steigen. Den Typ-2-Diabetes nannte man früher noch zutreffend "Altersdiabetes"; auch das ist heute anders – inzwischen können auch junge Menschen betroffen sein.
Zur Person
Dr. med. Yael Adler ist Fachärztin für Dermatologie, Venerologie, Phlebologie und Ernährungsmedizin (DGEM). Seit 2007 praktiziert sie in ihrer eigenen Praxis in Berlin. Ihr Talent, komplexe medizinische Sachverhalte anschaulich und unterhaltsam zu vermitteln, stellt sie seit Jahren in Vorträgen, Veranstaltungsmoderationen und den Medien unter Beweis. Über Prävention und Therapien spricht sie regelmäßig in ihrem Podcast "Ist das noch gesund?". Ihre Bücher "Haut nah" und "Darüber spricht man nicht" standen auf Platz 1 der Spiegel-Bestsellerliste. Mit ihrem letzten Buch "Genial vital! – Wer seinen Körper kennt, bleibt länger jung" durfte sich die leidenschaftliche Ärztin erneut über diese Spitzenplatzierung freuen.
Die gute Nachricht: Wissenschaftlich und breitenmedizinisch sind wir um Längen besser aufgestellt als die Kollegen in der Antike, die den Patientenurin noch selbst schlürfen mussten, um zu wissen, ob der nun halbtrocken oder lieblich und mithin zuckerbelastet war.
Heute kann jeder Patient den Blutzuckerwert mal eben im Labor erheben lassen. Allerdings springt der Apotheken-Urintest, der Glucose im Harn detektiert, erst an, wenn bereits ein manifester Diabetes vorliegt. Und zwar weil die Glucose über die Nieren vermehrt ausgeschieden wird. Er bietet sich also nicht unbedingt an, um einen sich ankündigenden oder moderaten Diabetes aufzudecken. Sollten Sie einen entsprechenden Verdacht haben, besser sofort zum Hausarzt gehen!
Bauchspeicheldrüse ist entscheidend
Mittelpunkt des Geschehens, das aber unseren gesamten Körper in Mitleidenschaft ziehen kann, ist unsere Bauchspeicheldrüse (Pankreas). Das ist ein großes, keilförmiges Organ, das wir im Oberbauch herumtragen: Hier werden jeden Tag etwa anderthalb bis zwei Liter alkalisches Sekret gemixt, das mittels Bikarbonat den bei der Nahrungsaufnahme anfallenden sauren Speisebrei neutralisiert. Als wichtigste Verdauungsdrüse gibt die Bauchspeicheldrüse Verdauungsenzyme ab, die zur Spaltung von Eiweiß, Kohlenhydraten, Fetten und Nukleinsäuren (Erbgut) benötigt werden. Kommt sie ihrem Versorgungsauftrag eines Tages nicht mehr nach, merkt der Patient davon oft über lange Zeit gar nichts. Erst wenn 90 Prozent der ausscheidenden Pankreasfunktion ausgefallen sind, verspürt er Beschwerden.
Die Bauchspeicheldrüse hat neben der exokrinen (Abgabe nach außen) noch die Aufgabe, Hormone zu produzieren – ihre endokrine (Abgabe ins Innere des Körpers) Funktion. Kleinere Gewebeanteile innerhalb der Bauchspeicheldrüse, die Langerhans-Inseln, sorgen für die Hormonproduktion, unter anderem von Insulin und Glucagon.
Typ 1 tritt oft schon bei Kindern auf
Bei einer Störung der Insulinwirkung am Gewebe (Insulinresistenz) kann Zucker nicht gut in die Zellen gelangen und schippert stattdessen in großen Mengen durchs Blut, gelangt auch ins Gewebe, verklebt Eiweiße und macht sie funktionsuntüchtig. Wie etwa den roten Blutfarbstoff Hämoglobin, bekannt als HbA1c und ein klassischer Diabetesmarker im Hausarztlabor. Er zeigt, wie der Blutzucker in den vergangenen drei Monaten war.
Versiegt die Insulinproduktion durch chronische Überlastung der insulinproduzierenden Zellen bei Typ-2-Diabetes oder werden diese Zellen wie beim Typ-1-Diabetes durch ein fehlgeleitetes körpereigenes Immunsystem zerstört, fehlt das Insulin und der Blutzuckerspiegel steigt massiv an. Der Typ-1-Diabetes tritt – ausgelöst durch Autoimmunprozesse etwa nach Virusinfektionen – meist schon im Kindes- und Jugendalter auf, aber auch bei Erwachsenen: Körpereigene Antikörper zerstören die insulinproduzierenden Zellen.
Durst, Müdigkeit, Antriebssschwäche
Die Ursachen dieser Fehlentwicklung sind bislang nicht restlos erforscht. Sind etwa 80 Prozent der Beta-Zellen zerstört, macht der Typ-1-Diabetes durch erhöhte Blutzuckerwerte auf sich aufmerksam. Außerdem empfinden Erkrankte jetzt häufig starken Durst, verlieren ohne eigenes Zutun an Körpergewicht und beklagen oft Müdigkeit und Antriebsschwäche. Ist der Blutzuckerspiegel dramatisch erhöht, kann es zu Bewusstseinsstörungen kommen. Manchmal fallen die Patienten sogar ins Koma. Um das zu verhindern, müssen die Betroffenen das fehlende Insulin lebenslang mit Spritzen oder Insulinpumpen zuführen und ihren Blutzuckerspiegel engmaschig überwachen.
Wenn sie Kohlenhydrate zu sich nehmen oder sich sportlich betätigen, müssen sie mehr oder weniger Insulin spritzen, und das sehr kontrolliert: eine Überdosierung, eine Unterdosierung oder das Fehlen des Insulins können im schlimmsten Fall tödlich enden. Trotzdem: Mit geschultem Selbstmanagement und modernen Messsensoren mit verknüpften Pumpen wachsen die Chancen auf eine normale Lebensqualität und -erwartung.
Typ 2 wird als Epidemie angesehen
Der Typ-2-Diabetes hingegen ist in den meisten Fällen durch unseren westlichen Lebensstil bedingt und wird mittlerweile sogar als weltweite Epidemie betrachtet. Auch schlanke Menschen mit Genveränderungen sind manchmal davon betroffen. Sie verlieren ohne eigenes Zutun merklich an Körpergewicht, fühlen sich oft müde und abgeschlagen und müssen häufiger Wasser lassen. Im fortgeschrittenen Stadium der Erkrankung können sich leider auch noch eine Verschlechterung des Sehvermögens, Nervenerkrankungen oder trockene Haut und Juckreiz einstellen. Sind die Nerven und Gefäße durch die großen Zuckermengen geschädigt, kann es überdies zu schlecht heilenden Wunden und Geschwüren kommen, besonders an den Füßen.
Das Risiko für Typ-2-Diabetes nimmt im Alter zu, wobei Bewegungsmangel und Übergewicht die Haupttreiber sind, aber auch Stress und Depressionen.
Bei Kindern eines von Typ-2-Diabetes betroffenen Elternteils liegt die Wahrscheinlichkeit, selbst daran zu erkranken, bei bis zu 50 Prozent. Sind beide Elternteile erkrankt, steigt das Risiko sogar auf 80 Prozent. Deshalb ist gerade für Menschen mit vorerkrankten Eltern die Prävention sehr wichtig. Der Diabetologe berät bei der Vorbeugung oder bei schon bestehender Erkrankung, welche Ernährung und welche Art der Lebensführung im individuellen Fall angebracht sind und hilft mit einer Reihe von Medikamenten.
Bewegung und gesunde Ernährung
Auch Sie selbst können einiges zur Vorbeugung tun, etwa das Rauchen einstellen, gegen das Übergewicht (Risikofaktor Nummer eins!) angehen und für möglichst regelmäßige Bewegung sorgen. Die beginnt schon bei zügigem Gehen, weil unsere Muskeln sich dann verstärkt am Blutzucker bedienen und die Insulinresistenz gemindert wird.
Besonders bei Kindern ist auf ausreichende Bewegung zu achten: Trampolinspringen, Fahrradfahren, Ballspielen oder Rollschuhlaufen. Ballaststoffe, Essenspausen ohne Zwischensnacks, Kaffeetrinken (4 bis 5 Tassen am Tag) und die Aminosäure Arginin sind schützend.
Gewebezuckersensoren für Typ-1-Diabetiker können auch bei der Prävention helfen, selbst wenn sie kerngesund sind: Probieren Sie diese Sensoren für 11 bis 14 Tage aus, um das eigene Essverhalten mit den Effekten auf den Blutzuckerspiegel zu beobachten. Sie können dabei lernen, Blutzuckerspitzen zu mindern. Etwa indem Sie erst Gemüse (Salat oder Gemüsesuppe), dann Fett und Eiweiß und erst am Schluss die Kohlenhydrate (Dessert) essen. Auch dauerhaft hohe Werte sind zu vermeiden, diese kommen auch bei Stress und schlechtem Schlaf mit Atemaussetzern vor.
Bleiben Sie (labor)werteorientiert und kommen Sie gesund durch die Zeit!
- Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.
- Eigene Meinung