Biograf Simon Shuster "Selenskyj plant etwas Großes"
Der Gesprächspartner muss auf jede unserer Fragen antworten. Anschließend bekommt er seine Antworten vorgelegt und kann sie autorisieren.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Verbissen verteidigt sich die Ukraine – mit Wolodymyr Selenskyj an der Spitze. Kein Journalist war ihm so nahe wie Simon Shuster. Hier erklärt der US-Korrespondent, was der Präsident der Ukraine plant und woher er die Kraft zum Durchhalten nimmt.
Am 24. Februar 2022 schien die Ukraine nahezu verloren. Russische Truppen drangen auf breiter Front ins Land ein, der Fall Kiews schien nur eine Frage der Zeit zu sein. Doch Präsident Wolodymyr Selenskyj verzichtete auf die Flucht, organisierte den Widerstand und kämpft seit Jahren für die Existenz seines Landes. "Time"-Korrespondent Simon Shuster hat Selenskyj dabei immer wieder begleitet und beobachtet, Gespräche mit dem ukrainischen Präsidenten und dessen Team geführt.
Wie hat der Krieg Selenskyj verändert? Welche Ziele verfolgt das ukrainische Staatsoberhaupt? Und was erwartet die Ukraine nach einem Ende des Krieges? Diese Fragen beantwortet Simon Shuster, dessen Selenskyj-Biografie "Vor den Augen der Welt" in diesem Jahr erschien, im Interview.
t-online: Herr Shuster, Wolodymyr Selenskyj ist das Symbol des ukrainischen Widerstands gegen die russische Aggression. Will er so in die Geschichte eingehen?
Simon Shuster: Wolodymyr Selenskyj sitzt nicht herum und denkt über seine Rolle in der Weltgeschichte nach. Putin verschwendet dafür hingegen reichlich Energie, wie ich vermute. Selenskyj ist auch kein großer Philosoph, er lebt und denkt im Augenblick – und konzentriert sich auf seine unmittelbaren Ziele. Auch wenn diese eine geschichtliche Bedeutung haben.
Also hat er doch eine historische Mission?
Was in der Ukraine geschieht, ist historisch. Anders kann es gar nicht sein. Nur ist es so, dass Selenskyj nicht in diesen Bahnen denkt. Er überlegt, was er heute, morgen und den Rest der Woche konkret tun kann. In unseren Gesprächen habe ich dann versucht, mehr über die historischen Dimensionen seiner Politik aus ihm herauszubekommen. Das hat ihn gefordert, es machte Spaß, ihn dafür zu interessieren. Herausgekommen ist die Erkenntnis, dass Selenskyj in der Tat etwas Großes plant.
Was genau?
Selenskyj sieht den gegenwärtigen Krieg als weiteres Beispiel dafür, wie eine imperiale Macht versucht, die Ukraine zu unterjochen. Das ist in der Geschichte zu oft geschehen. Der Holodomor spielt in Selenskyjs Denken eine besondere Rolle, der Versuch des Diktators Josef Stalin in den Dreißigerjahren, die sowjetische Wirtschaft aufzubauen, indem er Millionen Ukrainer verhungern ließ. Im Zweiten Weltkrieg besetzten dann wiederum die Deutschen das Land, um es auszuplündern.
Anschließend geriet die Ukraine bis 1991 wieder unter sowjetische Kontrolle.
Aus diesem Grund fühlt Selenskyj eine Art von historischer Frustration, weil die Ukraine in einem Kreislauf von Invasion und Unterdrückung gefangen ist. Das will er stoppen. Endgültig. Selenskyj sieht sein Ziel eben nicht nur darin, hier ein Gebiet zurückzuerobern oder dort einen Sieg auf dem Schlachtfeld gegen die Russen zu erringen, sondern er will besagten Kreislauf der imperialen Unterdrückung durchbrechen. Das ist ein noch viel größeres Vorhaben, als allein diesen einen Krieg beenden zu wollen, der gerade stattfindet.
Zur Person
Simon Shuster ist amerikanischer Journalist und berichtet seit mehr als 15 Jahren über Russland und die Ukraine, meistens für das "Time"-Magazin. In Moskau geboren, ist Shuster später in den USA aufgewachsen. Shuster hat umfangreichen Zugang zu Wolodymyr Selenskyj, mehrmals ist er mit dem ukrainischen Präsidenten an die Front gereist. Mit "Vor den Augen der Welt. Wolodymyr Selenskyj und der Krieg in der Ukraine" erschien im Januar Shusters Biografie des Staatsoberhaupts der Ukraine.
Wladimir Putin wirkt mitsamt seiner Entourage aus Hardlinern im Kreml fanatisch bei dem Versuch, das alte russische Imperium zu restaurieren. Wird Putin jemals aufgeben?
Wahrscheinlich nicht. Er ist besessen von der Geschichte, sein Gespräch mit dem Interviewer Tucker Carlson vor einigen Wochen ist ein weiterer Beleg: Putin missbraucht und deformiert historische Ereignisse aus ein paar Tausend Jahren Geschichte, um seine völkermörderische Aggression gegen die heutige Ukraine zu rechtfertigen.
Woher stammt dieser Wahn?
Ich leide unter einem Handicap, seit 2015 darf ich nicht mehr nach Russland einreisen. Beruflich gesehen ist das ziemlich übel. Deswegen stütze ich mich auf die Arbeit hervorragender Kollegen, die dort noch arbeiten dürfen: Irgendwann reichten Putin die Macht und der Reichtum, die er zusammengerafft hatte, nicht mehr aus. Nun will er als Eroberer in die Geschichte eingehen.
Lässt sich mit einem solchen Mann verhandeln? Gerade in Deutschland gibt es immer wieder Stimmen, die sich eine Verhandlungslösung herbeiwünschen.
Diese Leute erwartet eine Enttäuschung. 2019 hat Selenskyj Putin persönlich getroffen in seinem ersten Jahr als ukrainischer Präsident. Selenskyj dachte, er könne Putin irgendwie für sich gewinnen oder zumindest eine gemeinsame Sprache finden. Gerade in Bezug auf den Krieg, der bereits seit 2014 im Donbas herrschte. Aber Selenskyj scheiterte damit, Putin war wie aus Eis, man konnte nicht zu ihm durchdringen.
Selenskyjs gesamte Karriere basiert darauf, Menschen für sich einnehmen zu können. Das illustriert Ihr Buch "Vor den Augen der Welt. Wolodymyr Selenskyj und der Krieg in der Ukraine".
Entsprechend ernüchtert war er auch nach dem Treffen mit Putin. Ich schätze, dass es nur wenige Ereignisse in Selenskyjs Leben gab, bei denen er die Grenzen seiner kommunikativen Fähigkeiten erkennen musste. Das war so ein Moment, auf Putin war Selenskyj nicht vorbereitet. Eigentlich ist er ein sehr guter Kommunikator und Verhandlungsführer, charmant und einnehmend, Selenskyj bezaubert seine Gesprächspartner normalerweise. Es wurde dann eine Demonstration, wie schmerzhaft es sein kann, sich den Herausforderungen der internationalen Politik auf der großen Bühne zu stellen.
Wie kam ein erfolgreicher Comedian, der besonders mit seiner Politsatire "Diener des Volkes" Erfolge feierte, dazu, selbst in die Politik zu gehen und sich für das höchste Staatsamt zu bewerben?
Man muss schon über reichlich Selbstvertrauen verfügen, um den Versuch zu wagen, einfach von der Bühne weg in die Politik zu gehen und ein Land mit 44 Millionen Menschen zu regieren. Alles ohne Erfahrung. Ich fand das ziemlich kühn, Selenskyj dachte, irgendwie wird er es schon hinbekommen.
Sie haben Selenskyj 2019 das erste Mal getroffen, es war im Rahmen einer Wahlkampfveranstaltung. Was war Ihr Eindruck?
Vor der Bühne standen damals Tausende Menschen, die gekommen waren, um Selenskyj zu sehen. Hinter der Bühne herrschte eine vergnügte Partyatmosphäre. Nach der Show haben wir uns in seiner Garderobe unterhalten, er kam mir ziemlich naiv vor und schlecht vorbereitet für die Position, nach der er trachtete. Humorvoll, gewitzt, aber naiv in Sachen Politik, das war mein Eindruck.
Was haben Sie ihn damals gefragt? Immerhin befand sich die Ukraine schon damals im Krieg mit Russland.
Ich wollte von ihm wissen, wie er mit den Russen, aber auch den Europäern und Amerikanern umzugehen gedachte. Damals hatte er keine besonders ernsthaften oder gut durchdachten Antworten parat.
Trotzdem sprach ihm der Großteil der ukrainischen Wähler 2019 das Vertrauen aus. Der vom Komiker zum Politiker avancierte Selenskyj erhielt 73 Prozent der Stimmen in der Stichwahl gegen seinen Konkurrenten Petro Poroschenko. Warum?
Die Menschen erhofften sich in Selenskyj jemanden, der das System wirklich verändern könnte. Und zwar von außen. Das war das entscheidende Thema bei dieser Wahl: Es herrschte ein tiefes Misstrauen gegenüber den Regierungseliten, die Menschen beklagten die Korruption und den Mangel an Veränderung. Es schien ihnen, als sei das politische Leben in der Ukraine zu einer Art Karussell geworden, bei dem lediglich die politischen Figuren im Laufe der Zeit die Plätze wechselten, sich aber das System niemals wirklich veränderte.
Dieses Gefühl haben und hatten manche Wähler auch in westlichen Staaten.
Ganz genau. Auch ein Donald Trump ist Teil dieses Phänomens, ein populistischer Politiker, ein Vertreter des Anti-Establishments von außen, der verspricht, das bisherige System einfach zu zerreißen. Selenskyj kam zugute, dass die Menschen ihn bereits seit längerer Zeit kannten. Vor allem aufgrund seiner Rolle in "Diener des Volkes", in der er einen rechtschaffenen Außenseiter als Präsident gespielt hat. Zahlreiche Ukrainer waren schlichtweg der Ansicht, dass es nicht noch schlimmer werden könnte. Also gaben sie Selenskyj eine Chance.
Mit dem russischen Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 schlug dann Selenskyjs historische Stunde. Bis dahin waren seine Zustimmungswerte allerdings zusammengeschmolzen. Warum?
Dafür gab es aber Gründe. Die Corona-Pandemie hatte die Ukraine schwer getroffen, das sollten wir nicht vergessen. Ein besonderes Problem bestand für Selenskyj in der Beschaffung von Impfstoffen, der Westen wollte der Ukraine aber keine geben. Das rief massive Frustration bei den Ukrainern hervor. Sollte der Westen nicht der Partner der Ukraine sein, wollte das Land nicht der Europäischen Union beitreten? Diese Fragen stellten sich die Menschen, ihre Antwort lautete: Der Westen nimmt uns nicht ernst. Selenskyj bekam den Ärger ab.
Auch während der Pandemie lief der Konflikt gegen Russland im Donbas weiter. Das Ende dieses Krieges war eines der Wahlversprechen Selenskyjs.
Daran ist er gescheitert, ja. Viele Menschen hatten ihn dafür auch hart verurteilt. Aber über Putins unnachgiebige Haltung gegenüber der Ukraine haben wir ja schon gesprochen. Für Selenskyj war das sehr schlimm, denn er lebt von der Zuneigung der Menschen. Eben nicht nur seines Teams, mit dessen Mitgliedern ich viel über Selenskyj sprechen konnte, sondern möglichst vieler Menschen.
Gesetzt den Fall, dass Russland die Ukraine 2022 nicht überfallen hätte: Wie wäre Selenskyj den Ukrainern als Präsident in Erinnerung geblieben?
Selenskyj war bis zur russischen Vollinvasion keineswegs ein schlechter Präsident. Er hatte zuvor einige mutige wie ehrgeizige Schritte unternommen und unter schwierigen Umständen sein Bestes gegeben. Aber eben diese Umstände haben ihn im Grunde auch blockiert. Er war zutiefst frustriert darüber, wie schwierig es ist, Gesetze zu verabschieden, eine Wirtschaft anzukurbeln sowie ein Land durch eine Pandemie zu führen, alles ohne echte Partner und Verbündete in der Welt. Sie merken, ich laviere ein wenig angesichts Ihrer Frage. Eine definitive Antwort ist durch die Zeitläufte in Form des russischen Angriffs nicht möglich.
Hat sich Selenskyj durch sein Amt und den Krieg verändert?
Selenskyj ist härter und ernster geworden. Smalltalk und Witze? Dafür nimmt er sich mittlerweile keine Zeit mehr. Was ein ziemlicher Gegensatz zu dem Selenskyj ist, den ich 2019 kennengelernt habe. Im Frühjahr 2022 zwang er sich noch dazu, stets optimistisch und positiv zu wirken. Ich habe mit ihm darüber zu Beginn der Invasion gesprochen, Selenskyj sagte, dass es sehr für den Geist seines Teams sei.
Aber der Optimismus ist verschwunden?
Der Spaß ist vorbei, das haben mir Mitglieder seines Teams berichtet. Jetzt ist die Stimmung todernst. Wir müssen bedenken, womit Selenskyj konfrontiert ist: Er spricht mit Soldaten und Generälen, er sieht die Opfer dieses Krieges, die Grausamkeiten und Kriegsverbrechen, die an der Ukraine begangen werden. Tagein, tagaus. Selenskyj fühlt die enorme Verantwortung, diese Kriegsverbrechen zu beenden, er will Russland dafür bestrafen. Das bringt Selenskyj kaum in eine Stimmung, in der er herumalbern möchte.
Hat sich Selenskyj aber die Siegeszuversicht bewahren können? Zurzeit befindet sich Russland an der Front im Vorteil.
Selenskyj wird niemals aufgeben. Das wäre ihm auch schlichtweg unmöglich angesichts seines Ziels, die selbstbestimmte Zukunft der Ukraine zu sichern. Wenn ich mit ihm über das Thema spreche, sagt er: "Wir gewinnen diesen Krieg." Die Ukraine hat auch keine andere Wahl. Entsprechend robust tritt Selenskyj auf.
Der frühere ukrainische Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, löste nach der russischen Invasion 2022 mit seinem heftigen Beharren auf Waffenlieferungen Irritation im politischen Berlin aus.
In Deutschland ist Melnyk umstritten, weil sein Stil besonders hart war in seiner Zeit als Botschafter dort. Aber das ist meiner Meinung nach durchaus typisch für ukrainische Diplomaten in diesem Zeitraum. Auch Selenskyj war überaus direkt in seiner Sprache – und die Diplomaten übernahmen dies. Selenskyj hatte weder Geduld noch Zeit für diplomatische Höflichkeit, die Ukraine brauchte die Waffen zum Überleben. Ebenso, wie es heute noch der Fall ist.
Anfangs lieferte Deutschland der Ukraine 5.000 Helme, heute ist die Bundesrepublik einer der wichtigsten Unterstützer des Landes. Hat sich Selenskyjs Meinung über Deutschland geändert?
Damals waren die Deutschen einer der problematischsten Partner, was die Blockade und Verweigerung von Unterstützung für die angegriffene Ukraine angeht. Das hat sich sehr geändert, mittlerweile gibt es viele Fälle, in denen Deutschland bereits Hilfe schickt, während etwa die Amerikaner zögern. Deutschland nimmt mittlerweile eine Führungsrolle bei der Unterstützung der Ukraine ein – und das wird von Selenskyj und seinem Team auch gewürdigt.
Erst kürzlich hat mit Rolf Mützenich der Fraktionschef der SPD im Bundestag für ein "Einfrieren" des Krieges in der Ukraine plädiert. Wie sieht Selenskyj eine solche Option, für die ohnehin ein Einverständnis von Moskau fraglich ist?
Selenskyj – und mit ihm die militärischen Befehlshaber – hassen diese Idee. Denn das Unvermeidliche würde dadurch nur verzögert, die Ukraine in einem Schwebezustand belassen: Es gäbe weder Krieg noch Frieden, nur das Warten auf den nächsten Angriff. Noch schlimmer, die Ukraine würde wahrscheinlich noch schwieriger finanzielle und militärische Hilfe aus dem Westen erhalten, wenn der Konflikt erst einmal an den Rand der internationalen Agenda gerückt wäre. Für die Ukraine spielt es auch eine Rolle, dass ihre wirtschaftliche Lage durch eine "eingefrorene" Frontlinie wenig Aussicht auf Besserung hätte.
Sie haben Selenskyjs politische Anfangszeit als von Naivität geprägt geschildert. Herrscht möglicherweise bei uns in Deutschland Naivität, was die Reichweite von Putins Eroberungsplänen betrifft?
Wenn Russland in der Ukraine Erfolg hat, dann werden Polen und das Baltikum zum neuen Ziel. Das ist genau das Szenario, das Putin und der Kreml im Sinn haben. Insofern sind die Ängste in Polen und dem Baltikum völlig vernünftig. Ich sage das nicht, weil ich besondere Einblicke in das russische Machtgefüge habe, wir müssen nur das Kreml-TV einschalten und uns die russische Propaganda anhören: Dort fordern sie die Bombardierung Berlins. Wir sollten diese Drohungen ernst nehmen.
Unter anderem US-Präsident Joe Biden hat Selenskyj in der Vergangenheit vorgeworfen, die Bedrohung des russischen Truppenaufmarsches vor der Invasion im Februar 2022 nicht ernst genug genommen zu haben. Zu Recht?
Haben Sie damals eine Vollinvasion der Ukraine für realistisch gehalten? Ich jedenfalls nicht, Selenskyj ebenso wenig. Und mit dieser Ansicht war er nicht allein. Während ich mein Buch schrieb, habe ich mir die Quellen angesehen, die Selenskyj damals zur Verfügung standen. Unter den europäischen Geheimdiensten war es damals Konsens, dass die Invasion in ihrem Ausmaß viel begrenzter sein würde. Möglicherweise in Form einer Eskalation im Donbas. Dann stellte sich allerdings heraus, dass die Amerikaner mit ihrem viel extremeren Szenario richtig gelegen hatten.
Selenskyj hätte vor den anrückenden russischen Truppen fliehen können. Warum blieb er in Kiew?
Darüber habe ich viel gegrübelt. Alle, die Selenskyj kennen und mit denen ich darüber gesprochen habe, haben mir gesagt, dass es niemals einen Punkt gab, an dem er ernsthaft daran gedacht hat, wegzulaufen. Persönlich glaube ich, dass die Scham einer Flucht für ihn schlimmer war, als in seiner Hauptstadt zu sterben. Er wollte nicht als Feigling dastehen. Das hätte Selenskyj niemals ertragen, dieses Schicksal erschien ihm schlimmer als der Tod.
Weil er die Achtung und Zuneigung seiner Landsleute eingebüßt hätte?
Ja. Wenn wir Selenskyjs Karriere betrachten, passt sich diese Entscheidung in die Analyse seines Charakters ein. Selenskyj will von den Menschen in der Ukraine geliebt werden, er braucht das. Als Entertainer bezahlten die Leute dafür, seine Filme zu sehen und seine Shows zu sehen. Es war ihm immer wichtig, die Menschen zum Lachen zu bringen, sie glücklich zu machen. Als Präsident war er dann überaus empfindlich gegenüber öffentlicher Kritik und versuchte sein Bestes, um den Ukrainern die Führung zu geben, die sie wollten. Nach der Invasion fühlte er auch die Verantwortung, seine Landsleute als Symbol des Widerstands zu inspirieren.
Selenskyj wandelte sich über Nacht zum Kriegspräsidenten. Wie kam er mit dieser Rolle zurecht?
Er fand schnell hinein, verspürte sogar Freude daran. Er galt nun als Held, nicht nur in der Ukraine, sondern auch in vielen Teilen der Welt. Ich persönlich fand es erstaunlich, wie Selenskyj und seine Berater über diese neue Rolle sprachen. Selenskyj verhandelte nun mit Staatsoberhäuptern weltweit, traf Entscheidungen von historischer Bedeutung. Das hat ihm gefallen, dem Horror des Krieges zum Trotz.
Wir befinden uns nun im dritten Jahr seit Beginn der Vollinvasion, die russische Armee befindet sich im Vorteil, währen die ukrainische Armee unter Mangel an Munition und Waffen leidet. Wie wirkt sich das auf das Ansehen Selenskyjs im Land aus?
Seine Popularität ist immer hoch, mehr als 60 Prozent der Bevölkerung stimmen seiner Politik laut Umfragen zu. Das mag wenig erscheinen angesichts früherer Höhenflüge in Größenordnungen von 90 Prozent, aber nennen Sie mir einen anderen europäischen Politiker, der von so vielen Menschen unterstützt wird. Die gegenwärtige Lage an der Front ist auch nicht die Schuld von Selenskyj und den Ukrainern.
Sondern weil die westliche Unterstützung ausbleibt beziehungsweise zu spärlich eintrifft?
Selbstverständlich. Drohnen machen einen großen Unterschied in diesem Krieg, aber Artilleriegranaten braucht man trotzdem. Stellen Sie sich vor, welchen Eindruck es auf einen ukrainischen Soldaten an der Front macht, wenn die Ukraine nur eine Artilleriegranate auf fünf von Russland abgefeuerte Granaten erwidern kann. Krieg ist in gewisser Weise Mathematik. Und die Soldaten können rechnen. Zum Glück gibt es kreative Überraschungen, etwa in Form der Initiative der Tschechischen Republik, der Ukraine neue Munition zu verschaffen.
Im kommenden November könnte Donald Trump die US-Präsidentschaftswahlen gewinnen. Die Befürchtung ist, dass er die Ukraine sich selbst überlassen oder zu einem Frieden mit Russland drängen könnte. Wie würde Selenskyj reagieren?
Niemand kann Selenskyj einfach den Befehl erteilen, mit Russland zu verhandeln. Leute, die ihn herumschubsen wollen? Leute, die ihm sagen wollen, was er zu tun hat? Das ist das Einzige, was Selenskyj wirklich hasst. So etwas löst bei ihm eine sehr schlechte Reaktion aus. Das wäre ein schwerer Fehler. In solchen Situationen ist er besonders stark darin, Druck standzuhalten. Auf das von Ihnen beschriebene Szenario bereiten sich die Ukrainer auch entsprechend vor.
Wie?
Zum einen investiert die Ukraine stark in die inländische Waffenindustrie, um den Kampf auch dann fortsetzen zu können, wenn der Westen sie eines Tages zu einer Einstellung des Krieges bewegen will. Zugleich propagiert Selenskyj eine ukrainische Friedensformel.
Deren zehn Punkte er etwa im letzten Januar auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos vorgestellt hat?
Genau. Selenskyj und seine Umgebung haben hart an der Architektur für einen möglichen zukünftigen Friedensprozess gearbeitet. Heraus kam eine ernsthafte, ausgereifte und kluge Strategie, bei der die Ukraine gewissermaßen den Tisch für mögliche Verhandlungen in der Zukunft deckt, aber niemand sonst den Tisch für sie decken kann. Selenskyj und sein Team wollen nicht an Verhandlungen teilnehmen, deren Bedingungen ihnen von Russland oder sonst jemandem diktiert werden.
Apropos: Sie haben beschrieben, wie schwer sich Selenskyj vor der Invasion mit dem politischen Prozedere getan hatte und wie wenig kritikfähig er war. Das Kriegsrecht hat ihm hingegen sehr viele Befugnisse gegeben, Kritiker bemängeln etwa die Zensur der Medien. Wird Selenskyj der Macht eines Tages freiwillig entsagen?
Zumindest sagt Selenskyj das. Nach dem Kriegsrecht sollen wieder die normalen Bedingungen der Demokratie gelten – keine Zensur, regelmäßige Wahlen. Ich hoffe sehr darauf.
Höre ich Zweifel in Ihren Worten?
Ich beende mein Buch mit der Frage, vor welchen Herausforderungen die Ukraine selbst im Augenblick des Friedens stehen wird. Millionen Flüchtlinge werden in ihre Heimat zurückkehren, die zu weiten Teilen vom Krieg verheert ist. Mindestens eine Million Militärangehörige benötigen schließlich medizinische, psychologische und finanzielle Hilfe. Das alles angesichts einer Wirtschaft, die sich in einem schrecklichen Zustand befinden wird.
In einer solchen Situation könnte ein autokratisches "Durchregieren" manchen attraktiver erscheinen als ein demokratischer Prozess. Ist das Ihre Befürchtung?
All das wird eine volatile politische Situation herbeiführen. Ob Selenskyj – oder ein anderer Führer der Ukraine – in einer solchen Situation alle Kontrollhebel aufgeben wird? Die Versuchung wird zumindest groß sein.
Herr Shuster, vielen Dank für das Gespräch.
- Persönliches Gespräch mit Simon Shuster via Videokonferenz