Schuldfrage Der Mann, der mich Hure nannte
Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Unsere Kolumnistin trifft vor Gericht einen Mann, der sie im Netz massiv beleidigte. Und erlebt eine unangenehme Überraschung. Hinter dieser steckt allerdings nicht der Täter.
Es ist ein weiter Weg von Berlin nach Offenbach. Rund 550 Kilometer. Gut fünf Stunden mit dem Zug. In diesem sitze ich, die FFP2-Maske stramm über die Nase geklemmt. Der Scheitelpunkt der Omikron-Welle ist an diesem Montag noch nicht erreicht.
Aber es hilft nichts, ich muss reisen, denn ich muss als Zeugin vor Gericht aussagen. Gegen einen Mann, der mich auf Twitter eine "Hure" genannt hat. Sie müsse von mir hören, ob ich "Hure" als Beleidigung auffasse, schreibt die Richterin.
Keinen Einwand der Kanzlei, die mich über Hate Aid (eine Hilfsorganisation für Opfer von Hasskriminalität) vertritt, hat sie gelten lassen: Dass es ein weiter Weg ist von meinem Wohnort Berlin in den des Beklagten, also nach Offenbach. Dass die Inzidenz vierstellig ist. Dass man mich per Video zuschalten könnte.
Die Fernsehjournalistin Nicole Diekmann kennt man als seriöse Politik-Berichterstatterin. Ganz anders, nämlich schlagfertig und lustig, erlebt man sie auf Twitter – wo sie bereits Zehntausende Fans hat. In ihrer Kolumne auf t-online filetiert sie politische und gesellschaftliche Aufreger rund ums Internet. Ihr neues Buch "Die Shitstorm-Republik" ist jetzt überall erhältlich.
Nein, so Richterin Z. per Mail, ich müsse persönlich vor Ort vorstellig werden. Wenn ich nicht wolle, fügte sie hinzu, könne sie das Verfahren aber auch einstellen.
"Das ist ziemlich albern"
Der stets unerschrockene Kanzleichef antwortete ihr daraufhin: "Das ist ziemlich albern und führt dazu, dass Opfer durch das Strafverfahren nochmals mehr bestraft werden als Täter. Aber Ihre Anfrage zum Strafverfolgungsinteresse deutet darauf hin, dass genau das beabsichtigt ist, um ein Verfahren loszuwerden."
Nach dieser klaren Ansage war natürlich mit keinem Entgegenkommen mehr zu rechnen, also kam ich nach Offenbach. Denn das Verfahren einzustellen, den Täter davonkommen zu lassen, kam für mich nicht infrage. Ich kriege so eine Reise quer durch die Republik beruflich wie privat organisiert. Andere nicht. Beleidigt werden andere aber auch. Also sitze ich nun im ICE nach Offenbach.
Dort nimmt mich eine Anwältin vor dem Gerichtssaal in Empfang, in dem ich den Mann treffen soll, der mich "Hure" nannte. Ich muss zwar nur als Zeugin aussagen, aber rechtlicher Beistand schadet ja nie. Eine Frau mit blondem Bob kommt kurz darauf zu uns. Zackiger Schritt, freundliches Gesicht, etwa mein Alter. Sie stellt sich als Richterin Z. vor. Sie erklärt mir das Prozedere: Erst wird der Angeklagte drinnen aussagen, dann ruft sie mich dazu. Wir setzen uns wieder hin.
Den hatte ich mir anders vorgestellt
"Wo ist denn der Täter?", frage ich. "Weiß ich auch nicht", antwortet meine Anwältin schulterzuckend. Ein paar Stühle weiter sitzt ein Mann im Anzug, kurze dunkle Haare. Ein Anwalt höchstwahrscheinlich. Dann aber öffnet sich die Tür, der Angeklagte wird aufgerufen – und genau dieser vermeintliche Anwalt steht auf und setzt sich in Bewegung. Ich staune. So wenig ich auch versuche, an Klischees zu glauben: Den hatte ich mir anders vorgestellt.
In meinem Kopf arbeitet es. Wenn dieser Mann so unbescholten ist, wie er aussieht ... "Wie wahrscheinlich ist ein Freispruch?", höre ich mich sagen. "So gut wie ausgeschlossen", sagt meine Anwältin. "Vor allem nach dem Künast-Urteil."
Vor wenigen Wochen hat das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe ein aufsehenerregendes Grundsatzurteil gefällt. Der Kern: Richter müssten sorgfältig abwägen bei Beleidigungen im Netz. Anlass war eine unfassbare Entscheidung von Richtern in Berlin Jahr 2019. Die hatten befunden, die Grünen-Politikerin Renate Künast müsse sich "Drecks-Fotze" oder "Stück Scheiße" gefallen lassen. So war sie von Leuten auf Facebook genannt worden. Ich korrigiere: beleidigt.
Beleidigungen im Netz haben Einfluss auf die "echte" Welt
Hätte die völlig absurde Entscheidung der ersten Instanz Bestand gehabt, wäre das ein Dammbruch gewesen. Hatte sie zum Glück nicht. Aber, wie eben auch das Urteil der Karlsruher Richter zeigt und ihr Appell an ihre Berufskollegen: Noch immer nehmen viele Richter das Netz nicht ganz so ernst. Was dort passiert, so eine landläufige Meinung, ist nicht so schlimm wie das, was in der "echten" Welt passiert.
Dabei gibt es längst Studien und Namen für das, was da im Netz passiert: "Silencing effect" beispielsweise wird es genannt, wenn Menschen sich aus den Netzwerken zurückziehen. Weil sie keine Beleidigungen mehr ertragen können oder wollen. Oder weil sie Angst haben davor, dass die verbale Gewalt zur reellen wird.
Amnesty International hat dazu eine Umfrage mit bestürzenden Ergebnissen unter Frauen durchgeführt. Denn wir sind zwar nicht öfter von Hass im Netz betroffen als Männer, aber heftiger. "85 Prozent unserer Mandanten sind weiblich", erzählt meine Anwältin. Das deckt sich mit den Angaben von Hate Aid und anderen mit der Materie Befassten.
Da öffnet sich die Tür zum Gerichtssaal. Ich werde aufgerufen, wir beide treten ein.
"Frau Diekmann", sagt die Richterin, als ich Platz genommen habe, "der Angeklagte hat gestanden. Sie müssen nicht mehr aussagen." Fünf Stunden Fahrt umsonst. Na ja, fast: Der Angeklagte steht nun auf und entschuldigt sich bei mir. Er wisse auch nicht, was an dem Abend mit ihm los gewesen sei, sagt er.
Es fällt mir schwer, ihm zu glauben
Es fällt mir schwer, ihm in die Augen zu sehen und auch, ihm zu glauben. Er hatte jahrelang Zeit, sich bei mir zu entschuldigen; sein Tweet stammt aus dem Januar 2019. Da hatte ich getwittert: "Nazis raus", und auf eine Nachfrage, wer denn für mich ein Nazi sei, ironisch geantwortet: "Jeder, der oder die nicht die Grünen wählt."
Dafür erntete ich einen riesigen Shitstorm. Dieser Mann war Teil einer Meute, die sich auf mich einschoss, mir drohte, mich beleidigte, sich gegenseitig hochschaukelte in dem Bemühen, mich wie den letzten Dreck dastehen zu lassen.
Die Richterin aber entscheidet heute: Das Verfahren gegen ihn wird eingestellt. Er muss einen Netto-Monatslohn an eine gemeinnützige Vereinigung spenden. 4.000 Euro seien das, sagt er. Das ist nicht wenig, der Mann scheint also wirklich ein einigermaßen stabiles Leben zu führen. Das wird er auch weiterhin führen können. Keine Akte wird je darüber informieren, was er getan hat.
Richterin sieht Teilschuld beim Opfer
Ich bin irritiert. Und werde es gleich in noch viel höherem Maße sein, denn die Richterin setzt zu ihren Schlussworten an und sagt: Sie wolle "an alle Beteiligten appellieren, sich sehr genau zu überlegen, wie sie sich in der Öffentlichkeit verhalten".
Übersetzt: Ich habe Teilschuld. Es gibt in der Welt dieser Frau eine Rechtfertigung dafür, dass der Mann mich "Hure" genannt hat.
Es ist ein langer Weg von Berlin nach Offenbach. Aber anscheinend ein noch ein längerer, bis allen klar ist, wie wichtig das Netz ist.