Tagesanbruch Kiews Zögern rächt sich bitter
Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
zwischen Sorgen und Problemen fällt die Wahl nicht schwer. Mit Sorgen muss man leben. Probleme kann man lösen. Man muss sich vielleicht das Hirn zermartern, sich abrackern und ins Zeug legen, aber dann heißt es: Haken dran und weiter im Text. So soll es sein.
An der dringend benötigten Hilfe für die Ukraine ist endlich auch der Haken dran. Europa liefert Munition. Auch der US-Kongress hat zu guter Letzt seine Selbstblockade überwunden. Selenskyjs Soldaten können den russischen Invasoren also bald wieder die Stirn bieten. Und wir in Deutschland können aufatmen und uns anderen Problemen zuwenden – oder? Leider ist das Wunschdenken.
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Litten die ukrainischen Truppen nur unter Munitionsmangel, würde sich die Lage wohl tatsächlich bald entspannen. Doch an der Ostfront nahe Awdijiwka, das kürzlich an die russischen Angreifer gefallen ist, herrschen chaotische Zustände. Den Ukrainern fehlt eine fertig ausgebaute Verteidigungslinie, auf die sie sich zurückziehen können. Putins Generäle nutzen die Schwäche des Gegners aus. Nun, das kann passieren im Krieg, aber am Ende hält die Abwehr – oder? Leider wächst bei genauerem Hinsehen die Sorge.
Neben der Knappheit von Munition, die sich mit westlicher Hilfe beheben lässt, schlägt sich ein weiterer gravierender Mangel nieder: der an Soldaten. Aufgrund der ukrainischen Verluste werden Einheiten auf die Schnelle neu zusammengewürfelt. Ausgelaugte Soldaten füllen die Lücken und hinterlassen anderswo neue. Größere Verbände zerfallen in kleinere Einheiten (hier zu sehen). Die Koordination klappt nicht. Zugegeben, an einem schwierigen Abschnitt der Front kann so etwas passieren. Das wäre noch immer kein Alarmzeichen für den Zustand der ukrainischen Armee im Allgemeinen. Aber das Problem ist nicht lokal begrenzt. Schon während der Sommeroffensive im vergangenen Jahr hat sich gezeigt: Die ukrainischen Truppen sind nicht in der Lage, aufeinander abgestimmt in größeren Verbänden zu operieren. Ihnen fehlt auf allen Ebenen der militärischen Hierarchie das Training für komplexe Manöver.
Die Personallücken sind riesig. Viele Offiziere, die nach Nato-Standards ausgebildet waren und Putins Invasion vor zwei Jahren aufgehalten haben, sind verwundet oder tot. Unerfahrene Rekruten haben zwar den Umgang mit westlichen Waffensystemen gelernt – aber Operationen, bei denen Infanterie, Panzer und Artillerie im großen Stil und mit exaktem Timing zusammenarbeiten, haben sie nicht geübt. Warum nicht? Weil sie im Dauereinsatz an der Front gebraucht werden. Sie haben keine Zeit zum Trainieren.
Den Verteidigern fehlen die Reserven – und die Folgen werden immer offensichtlicher. Nicht nur bei Awdijiwka, sondern auch im Norden verzeichnen russische Verbände Erfolge. Putins Soldaten mögen schlecht ausgebildet sein, aber sie sind in der Überzahl (hier sehen Sie den Vergleich). Ihre Kommandeure lassen sich von horrenden Opferzahlen nicht beeindrucken. Den Untergebenen droht bei mangelndem Kampfeswillen die Exekution. Dennoch finden genügend Russen den Weg in Putins bestialische Kriegsmaschinerie, vor allem junge Männer aus armen Verhältnissen. Der üppige Sold lockt sie – und viele realisieren erst vor Ort, dass die Aussicht auf das schnelle Geld in einem frischen Grab endet.
In der Ukraine dagegen haben die jungen Leute schon vorab ein realistischeres Bild vom Horror an der Front. Wer will es ihnen verdenken, dass sie dort nicht hinwollen? Der mangelnden Einsatzbereitschaft hat Präsident Selenskyj nach langem Zögern per Gesetz nachgeholfen und das Einberufungsalter von 27 auf 25 Jahre gesenkt. Außerdem ist es fast unmöglich geworden, sich mit Schmiergeld von der Einberufung freizukaufen. Hässliche Szenen sind die Folge: Häscher in Uniform zerren Dienstunwillige aus Bussen oder ergreifen sie in Bars. Kein Wunder, dass der Popstar-Präsident in Kiew vor den unpopulären Zwangsmaßnahmen so lange zurückschreckte, bis es nicht mehr ging.
Aber weitergehen konnte es so nicht mehr. In der Ukraine kämpft eine Armee gesetzten Alters. Die Soldaten, die die brutalen Bedingungen in den Schützengräben ertragen müssen, der Eiseskälte im Winter und der sommerlichen Gluthitze trotzen, bleischwere Waffen und Granaten durch den Schlamm in die Stellungen schleppen, sind im Durchschnitt 43 – jawohl, 43! – Jahre alt. Viele haben auch die 50 schon passiert. Damit sind sie ein Spiegel der ukrainischen Gesellschaft: Deren Alterspyramide weist bei den fitten Jungen eine tiefe Delle auf. Junge Leute sind rar in der Ukraine, die Geburtenrate ist kläglich. Mit den Jungen schicken die Generäle und Politiker also die Zukunft des Landes an die Front. Auch deshalb war das gesenkte Einberufungsalter so eine schmerzliche Entscheidung.
Das Zögern in Kiew erscheint verständlich, rächt sich nun aber bitter. Denn anders als beim Engpass an Munition lässt sich der Mangel an ausgebildeten Soldaten nicht mit einem Federstrich beheben. Es wird Monate dauern, bis die Mannschaften, die es bisher nur auf dem Papier gibt, Putins Truppen entgegentreten können. Das zerrt an den Nerven der Ukrainer.
Offen bleibt allerdings, wie wirksam die Russen die Schwächen der ukrainischen Verteidiger ausnutzen können. Ihr Handlungsspielraum wird möglicherweise davon begrenzt, dass sie über ihre eigenen Füße stolpern. Schlechte Ausbildung, veraltete Ausrüstung, unqualifizierte Kommandeure und holprige Logistik fordern ihren Tribut. Mit selbstmörderischen "Fleischwolf-Attacken" haben sie punktuell die Front durchbrochen. Doch die Lücken rasch, geschickt, mobil ausnutzen, das kann man mit dieser irrwitzigen Taktik nicht. Viel hängt nun davon ab, was die russischen Kommandeure im Laufe des Krieges dazugelernt haben. Jetzt wird sich zeigen, in welchen Bereichen ihr schwerfälliger Apparat noch immer ganz der Alte geblieben ist.
Die militärische Initiative liegt nun bei den Russen. Ihre Offensive wird im Mai oder Juni erwartet. Die europäischen und amerikanischen Unterstützer der Ukraine haben den Mangel an Munition wohl behoben und damit ein wichtiges Problem gelöst. Abhaken können wir den Krieg in der Ukraine damit aber weiß Gott nicht. Die Sorgen bleiben. Große Sorgen.
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Zum Schluss
Ich wünsche Ihnen einen produktiven Dienstag und morgen einen sonnigen Feiertag. Der nächste Tagesanbruch kommt am Donnerstag von Bastian Brauns aus Washington.
Herzliche Grüße
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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