Tagesanbruch Sonst droht der Sturz ins Chaos
Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
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im Vergleich zum Chaos, das gegenwärtig in der Welt herrscht, wirken die überfüllten Straßen von New York beinahe übersichtlich. Mit Ausdauer hupen hier die genervten Autofahrer. Aus den Schächten der Metro dröhnt das Gebläse der Lüftungsanlagen. Es ist Mitte April und die Klimaanlagen erzeugen bereits dieses Surren in der Luft. In einem heruntergekommenen McDonald's in Chinatown steht ein Polizist und wartet auf seine Big-Mac-Bestellung.
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Verwirrte Touristen schieben sich an einer Gruppe von Flüchtlingen vorbei, die hier im Süden von Manhattan den Tag vor einer Bankfiliale verbringen. Und nebenan in einem Café kostet ein Espresso mit Bohnen aus Costa Rica rund acht Dollar. Alles scheint so, als könnte das einfach immer so weitergehen – chaotisch, aber friedlich.
Doch eine weitere Krise droht über die Welt hereinzubrechen. Nur wenige Meilen von Chinatown entfernt kommen an diesem Sonntag die Vertreter des UN-Sicherheitsrats am East River zusammen. Der Grund: ein Angriff des Iran auf Israel. Bei den Vereinten Nationen sitzt Israels Botschafter Gilad Erdan und zeigt ein Video aus Jerusalem. "Schauen Sie nur genau hin", sagt er zu seinem Kollegen, dem iranischen Botschafter Saeed Iravani.
Zu sehen ist eine nächtliche Aufnahme der al-Aqsa-Moschee in Jerusalem. Der Felsendom mit seiner goldenen Kuppel ist ein islamisches Heiligtum. Leuchtende Raketen und Flugabwehr-Salven tauchen am dunklen Himmel auf. Sirenenalarm ist zu hören. Erdan klagt das iranische Regime an, nicht im Interesse der Muslime zu handeln. Israel habe die heilige Stätte der Muslime vor ihrer Zerstörung bewahrt.
Dann spricht er eine Warnung aus: "Dieser Angriff hat jede rote Linie überschritten. Und Israel behält sich das Recht vor, Vergeltung zu üben". Was Teheran getan habe, könne zu nicht weniger als einem Weltkrieg führen. Bevor es zu spät ist und der Iran die Atombombe habe, müsse endlich gehandelt werden, so Israels UN-Botschafter.
Wirklich, ein Weltkrieg? Man mag die Äußerungen des israelischen Diplomaten als übertrieben empfinden. Aber im Nahen Osten steht der Weltfrieden wirklich auf dem Spiel. Die Lage der Allianzen und gegenseitigen Loyalitäten dort ist derart unübersichtlich, dass in der Tat nur eine Strategie zu helfen scheint:
Die Spirale der Gewalt darf sich unter keinen Umständen weiterdrehen. Denn involviert sind längst nicht nur die arabischen Nachbarstaaten, sondern die ganze Welt. Es ist ein extrem komplexes Geflecht aus wirtschaftlichen, politischen und militärischen Beziehungen, aus asymmetrisch agierenden und finanzierten Terrorgruppen. Russland paktiert beispielsweise mit Syrien und dem Iran, Amerika mit Israel, Saudi-Arabien und Jordanien, China wiederum hat wirtschaftlichen Einfluss im Iran, Großbritannien, Deutschland und die übrigen Staaten der Europäischen Union stehen an der Seite Israels, unterhalten aber auch Beziehungen zu weiteren umliegenden Ländern wie Katar.
Die Dynamik aus gegenseitigen iranisch-israelischen Vergeltungsschlägen muss daher unbedingt unterbrochen werden. Auf den ersten Blick mag diese Forderung absurd erscheinen. Israel wurde erstmals vom Iran auf eigenem Staatsgebiet angegriffen. Das Land hat jedes Recht, vielleicht sogar die Pflicht, zurückzuschlagen. Doch wie es derzeit scheint, ist das, was der Iran getan hat, ein absolut zynisches Theater. Im Wissen um die amerikanische, britische und französische Unterstützung Israels feuerte das Regime Hunderte Drohnen und Raketen ab.
Die Attacke war keine Geheimaktion. Seit Tagen war mit einem Vergeltungsschlag gegen Israel gedroht worden dafür, dass Benjamin Netanjahu das iranische Konsulat im syrischen Damaskus bombardieren ließ. Hochrangige iranische Militärs kamen dabei ums Leben. Iran wertete diesen Schlag ebenfalls als Angriff gegen das eigene Staatsgebiet. Dass es eine Antwort aus Teheran geben werde, stellte das Regime umgehend klar.
In Washington war US-Präsident Joe Biden deshalb auch außer sich. Wütende Telefonate mit dem israelischen Premierminister folgten. Eine Eskalation mit dem Iran ist das Letzte, was die USA zu dieser Zeit und in dieser Weltlage brauchen können.
So sehr eine Eskalation zu Recht befürchtet wurde, so sehr konnte man sich offenbar auf die Aktion des Iran vorbereiten. Sogar der Nato-Partner Türkei soll vorab von Teheran in Kenntnis gesetzt worden sein. Auch die amerikanischen Geheimdienste wussten gut Bescheid, auch wenn die große Menge an Raketen offenbar auch die US-Regierung überraschte. Vor den Vereinten Nationen behauptete Irans Botschafter am Sonntag sogar, man habe das US-Militär involviert, damit es die eigenen Drohnen habe abfangen können. Glauben sollte man solchen Erzählungen ohne Belege allerdings nicht.
Was aber klar ist: Sollte die israelische Antwort gegen den Iran zu einer weiteren Eskalation führen, wäre ausgerechnet ein Ziel der Hamas-Terroristen im Gazastreifen erreicht: Das ausbrechende Chaos in der Region könnte die in den vergangenen Jahren mühsam erzielten Annäherungen zwischen Israel und einzelnen arabischen Nachbarstaaten gefährden. Und auch dem Iran wäre damit geholfen. Nicht ohne Grund nutzte der iranische UN-Vertreter in New York seine Redezeit hauptsächlich dafür, um sich als Schutzmacht für die Palästinenser zu präsentieren.
Aus diesem Grund treten die USA, gemeinsam mit ihren Verbündeten, auffällig deutlich auf die Bremse. Nach dem Telefonat der Staats- und Regierungschefs der G7-Staaten liest sich die gemeinsame Erklärung reichlich deeskalierend. Zwar wird der Angriff des Iran und seiner Terrorgruppen scharf verurteilt und die Unterstützung und Verteidigung Israels wird deutlich betont. Der Fokus des gemeinsamen Statements aber liegt auf diesen Worten: "Wir werden weiterhin daran arbeiten, die Lage zu stabilisieren und eine weitere Eskalation zu vermeiden."
Die US-Regierung will sich darum ganz offensichtlich auch nicht an einer möglichen Vergeltungsaktion Israels gegen Iran beteiligen. Nach übereinstimmenden amerikanischen Medienberichten soll Biden dem israelischen Premierminister einen sofortigen Gegenschlag sogar vorerst ausgeredet haben. Der Ball liegt also einmal mehr bei Benjamin Netanjahu. Sein wegen des Hamas-Angriffs einberufenes Kriegskabinett ist sich uneins darüber, wann es eine Antwort an den Iran geben wird und wie diese überhaupt aussehen soll.
Es ist eine zulässige Sichtweise, zu fragen: Was hätte geschehen können, wenn Israel und seine Verbündeten den iranischen Angriff nicht hätten abwenden können? Dann wären womöglich Hunderte und Tausende Israelis gestorben. Die Raketen-Attacke auf das eigene Staatsgebiet kann klar als Kriegserklärung aufgefasst werden. Eine deutliche Reaktion wäre zulässig. Hier können Sie lesen, wie der Israel-Experte Richard C. Schneider die Lage im Gespräch mit meinem Kollegen Marc von Lüpke einschätzt.
Aber es ist auch zulässig, zu fragen: Was ist die klügere und nachhaltigere Reaktion? Denn dank der gemeinsamen militärischen Fähigkeiten Israels und seiner Verbündeten ist bei der iranischen Attacke glücklicherweise wenig geschehen. Eben diese demonstrative Stärke bietet nun auch Spielraum, nicht mit einer noch größeren Vergeltungsaktion in die Falle zu tappen. Das wäre keine falsche Appeasement-Politik. Denn die Falle ist längst gestellt von jenen Kräften, die den Westen am liebsten in einen weiteren Kriegsschauplatz verwickeln wollen. Aber im sogenannten Pulverfass Nahost ist ein Angriff nicht unbedingt die beste Verteidigung. Vielmehr ist Verteidigung der beste Angriff.
Wie die bedingungslose Verteidigung Israels trotzdem aussehen kann, war am Wochenende eindrucksvoll zu beobachten. Es ist eine Leistung, bei der man berechtigterweise sogar fragen kann, warum die USA und der Westen die Ukraine nicht auf ähnliche Weise verteidigen wollen. Auch Israel ist kein Nato-Partner. Und die Abwehr des iranischen Angriffs hat gezeigt, dass man durch Unterstützung nicht per se zur Kriegspartei werden muss.
Das ist eine Lehre, für die es noch nicht zu spät ist, um sie auch gegen Wladimir Putin anzuwenden. Entschiedenes Einstehen verhindert Eskalation. Zögern hingegen schafft Chaos. Und immer neue Vergeltungen können sogar zum Kontrollverlust führen.
Das historische Bild
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Zum Schluss
Ihr
Bastian Brauns
Washington-Korrespondent
Twitter @BastianBrauns
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Mit Material von dpa.
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