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Seltene Erkrankung NCL2: Die zehnjährige Hannah hat Kinderdemenz


Pharmafirma lässt Hoffnung zerschellen
Die zehnjährige Hannah hat Kinderdemenz

t-online, Anja Speitel

27.08.2015Lesedauer: 6 Min.
Seltene Erkrankungen: Hannah leidet an NCL2, einem Gendefekt, der Hirnzellen absterben lässt.Vergrößern des Bildes
Hannah wirkt wie ein fröhliches Mädchen, aber eine rasant fortschreitende Krankheit zerstört ihr Gedächtnis. (Quelle: privat)

Reportage von Anja Speitel

Hannah hat kürzlich ihren zehnten Geburtstag gefeiert. Einen ganz besonderen Geburtstag. Denn wenn kein Wunder geschieht, wird sie nächsten Juli von ihrem Ehrentag nichts mehr mitbekommen. Hannah hat die Hirnabbauerkrankung NCL2, die umgangssprachlich als Kinderdemenz bezeichnet wird.

Hannah kann noch laufen, aber Treppen steigen klappt schon nicht mehr. Sie spricht auch noch Zweiwortsätze, doch lesen oder schreiben hat sie verlernt. Die Zehnjährige aus dem bayerischen Dorf Greiling bei Bad Tölz ist auf den Stand einer Drei- bis Vierjährigen zurückgefallen. Und die "Kinderdemenz" schreitet rasant voran: "Hannah hat sich im vergangenen Dreivierteljahr deutlich verschlechtert", sagt ihr Vater Michael Vogel traurig. "Sie ist so tüddelig wie eine alte Oma. Alles fragt sie zehn Mal nach. Neulich hat sie auf die Herdplatte gefasst. Sie tut sich oft weh und fällt oft hin. Mittlerweile müssen wir sie rund um die Uhr beaufsichtigen."

NCL2 ist eine erbarmungslose Krankheit

Die spätinfantile neuronale Cereoid-Lipofuszinose Typ2 (NCL2) zählt zu den sogenannten Speicherkrankheiten. Die Gehirnzellen können bestimmte Abfallstoffe nicht mehr abbauen. Sie vermüllen sozusagen und sterben ab. Dadurch verlernt das Kind alle geistigen und körperlichen Fähigkeiten und wird schließlich wieder so hilflos wie ein Neugeborenes.

Epileptische Anfälle, Muskelzuckungen, schlechter Schlaf, Unruhe und Halluzinationen begleiten die Erkrankung. Zudem erblinden die Kinder und ihr Immunsystem wird schwächer. Wenn schließlich der Schluckreflex nachlässt, müssen sie durch eine Sonde ernährt werden. Irgendwann versagen auch die primären Lebensfunktionen – die Kinder ersticken oder ihr Herz hört auf zu schlagen.

NCL ist mit einer Häufigkeit von etwa einem Fall auf rund 30.000 Geburten pro Jahr zwar extrem selten, aber dennoch die häufigste genetische Hirnabbauerkrankung im Kindes- und Jugendalter. Schätzungsweise leiden knapp 400 Kinder in Deutschland daran.

Hoffnung für NCL2-Kinder

Lange gab es keine Behandlung. Lediglich einige Symptome lassen sich mit Medikamenten lindern. Doch seit kurzem gibt es Hoffnung für NCL2-Kinder: Das US-Pharmaunternehmen BioMarin hat eine Enzymersatztherapie entwickelt, die schon an 24 Kindern in London und Hamburg getestet wurde. Die Ergebnisse sind noch nicht veröffentlicht. Allerdings können die Wissenschaftler bereits sagen, dass die Krankheit bei den behandelten Kindern langsamer voranschreitet, und dass keine schweren Nebenwirkungen aufgetreten sind.

Da sich die Therapie noch in der ersten Studienphase befindet, dauert es jedoch noch mindestens ein Jahr bis das Medikament die Zulassung erhält. Das ist für Hannah zu spät, bis dahin wird sie vieles verloren haben, was sie jetzt noch kann.

Pharmafirma bleibt hart

Deshalb wollten ihre Eltern einen "individuellen Heilversuch" mit dem noch nicht zugelassenen Medikament wagen. Er ist per Gesetz in Deutschland erlaubt, wenn der Patient lebensbedrohend erkrankt ist und andere Behandlungsmöglichkeiten ausgeschöpft sind. Außerdem muss ein Mediziner die Verantwortung für die noch nicht zugelassene Behandlung übernehmen. Professor Thorsten Marquardt, Spezialist für Seltene Krankheiten an der Stoffwechsel-Spezialambulanz des Universitätsklinikums Münster (UKM), würde das für Hannah tun.

Nach der schlimmen Diagnose kam für Michael und Stefanie Vogel der nächste Schock: BioMarin weigert sich, das Medikament für Hannahs individuellen Heilversuch herauszugeben. "Wir haben geschrieben, gebettelt, demonstriert, eine Website für Hannah erstellt und eine Petition gestartet." Über 359.000 Menschen haben bereits für Hannah unterschreiben, aber die Pharmafirma lässt sich nicht erweichen.

"Hannah steht auch auf der Warteliste für die nächste Studie an betroffenen Kindern – doch wann die kommt, wissen wir nicht. Es ist eine sehr belastende Situation für uns", sagt Michael Vogel leise.

Seltene Erkrankungen wie NCL sind mit einem immensen Leidensweg verbunden. Meist vergehen Jahre, nicht selten Jahrzehnte, bis eine Diagnose gestellt wird. Auch Hannahs Arztmarathon begann bereits im April 2013. "Als sie 2012 eingeschult wurde, kam sie nicht richtig mit. Sie war schlecht drauf, schlief schlecht, hatte Sehprobleme und bekam erste epileptische Anfälle", erinnert sich der Vater. Doch kein Arzt konnte die Ursache ergründen. Es dauerte fast zwei Jahre, bis bei Hannah NCL2 festgestellt wurde: Ein einfacher Gentest für 60 Euro brachte die schreckliche Gewissheit.

Hannahs Fall ist besonders tragisch

Wäre die Diagnose NCL bei Hannah früher gestellt worden, hätte sie gute Chancen gehabt, in die Enzymstudie von BioMarin aufgenommen zu werden. "Nach meinem Wissensstand erfüllt Hannah alle Studien-Kriterien", so Professor Marquardt. Deshalb ist die späte NCL2-Diagnose bei Hannah besonders tragisch. "Da gibt es Hoffnung, aber keinen Zugang. Es ist eine Zumutung bis zur Zulassung auf die Enzymtherapie zu warten, weil NCL2 so schrecklich rasant fortschreitet: Woche für Woche verlieren die kleinen Patienten mehr Fähigkeiten." Er gibt zu bedenken: "Ist die Krankheit weit fortgeschritten, verlängert man durch eine Therapie nur das Leid. Denn was weg ist, kommt dadurch nicht wieder. "

Der Spezialist hat versucht, mit der Pharmafirma den individuellen Heilversuch zu verhandeln. Doch ohne Erfolg. "Wir können in diesem frühen Stadium der Entwicklung keine individuellen Anfragen nach Therapie außerhalb von klinischen Studien gewähren", so das Statement von BioMarin.

Eine entmutigende Situation für Familie Vogel: Denn nur wenn Hannah das neue Medikament bald bekommt, könnte das Wunder geschehen, dass Hannah ihren elften Geburtstag noch mitbekommt. Ihr Vater kritisiert: "Wenn der Hersteller selbst entscheiden kann, ob er ein Medikament herausgibt oder nicht, dann ist dieses Gesetz zum individuellen Heilversuch, das todgeweihten Patienten helfen will, eine Farce."

"Hier ist die Politik aufgefordert, andere Regelungen zu treffen – auch für die nächsten Hannahs", betont Professor Marquardt. "Man könnte ein Härtefallprogramm zur Auflage machen und Ärzten die Möglichkeit zu einem Einzel-Heilversuch erleichtern."

"Eine Diagnose ist trotz aller Brutalität entlastend"

Weil viele Ärzte NCL gar nicht kennen, gehen Experten von einer hohen Dunkelziffer aus. Marquardt appelliert an Eltern: "Wenn ein Kind nicht kontinuierliche Fortschritte macht, man ein Auf und Ab der Fähigkeiten beobachtet, ist das immer ein Warnzeichen. Ich kann Eltern nur raten, auf ihr Bauchgefühl zu hören, sich nicht abspeisen zu lassen und nicht aufzugeben, bis sie eine Diagnose für ihr Kind bekommen."

Betroffene sollten sich an ein Zentrum für Seltene Erkrankungen wenden und sich einer Selbsthilfegruppe anschließen. Dort finden sie Informationen, Alltagstipps und Verständnis. Iris Dyck ist die Vorsitzende der NCL-Gruppe Deutschland, der 250 Familien angehören. Ihre Tochter Clara starb im Alter von zehn Jahren an der Krankheit. "Keiner kann sich vorstellen, wie es ist, wenn ein Kind jede Fähigkeit verliert", weiß Dyck. "Nicht selten zerbrechen Familien daran – emotional und finanziell." Aber die endlich eine Diagnose zu haben, sei für die Eltern trotz aller Brutalität entlastend. Dann werde es einfacher, die richtigen Dinge für das Kind zu tun.

Hannahs Eltern haben mit Freunden eine Recherche-Gruppe zu NCL2 gegründet. Über Hannahs Website kamen außerdem 400 E-Mails von Menschen, die Tipps geben, um Hannahs Lebensqualität zu verbessern. Momentan sichten die Eltern mit dem Arzt alle Hinweise. "Hannah macht bereits Logopädie und Krankengymnastik. Und sie reitet, soweit es noch geht", sagt Michael.

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Seltene Erkrankungen betreffen oft Kinder

In der Europäischen Union gilt eine Erkrankung als selten, wenn nicht mehr als fünf von 10.000 Menschen in der EU betroffen sind. Weltweit gibt es rund 8.000 unterschiedliche Seltene Erkrankungen. Etwa 80 Prozent sind genetisch bedingt, daher machen sich viele schon bei der Geburt oder im frühen Kindesalter bemerkbar. In Deutschland leiden etwa vier Millionen Menschen an einer Seltenen Erkrankung. So selten sind die "Seltenen" also gar nicht. Aber für die Pharmaunternehmen ist die Forschung und Entwicklung von Medikamenten nicht lukrativ genug. Immerhin hat das Bundesministerium für Gesundheit für die Jahre 2012 bis 2015 einen Themenschwerpunkt "Seltene Erkrankungen" mit einem Gesamtvolumen von fünf Millionen Euro eingerichtet.

Weitere Informationen über NCL2

Neuronale Cereoid-Lipofuszinose ist der Oberbegriff für verschiedene Genmutationen. Die Eltern haben ein krankes und ein gesundes Gen für NCL. Geben Mutter und Vater das defekte Gen weiter, kann die Krankheit bei ihrem Kind ausbrechen. Es gibt Kinder, die ab Geburt krank sind (kongenitale NCL). Bei anderen tritt die Erkrankung gegen Ende des ersten Lebensjahres auf (infantile NCL). Die häufigsten Formen beginnen um das dritte Lebensjahr (spätinfantile NCL) oder im frühen Schulalter (juvenile NCL). Kinder mit NCL2 werden selten älter als zehn bis 15 Jahre. Betroffene mit juveniler NCL können trotz schwerer gesundheitlicher Probleme 30 Jahre und älter werden.

Um betroffene Kinder wie Hannah zu unterstützen sowie Projekte, Forschung und Therapieentwicklung weiter voranzutreiben, sind Spenden nötig.

Spendenkonto der NCL-Gruppe Deutschland
Konto Nr.: 1950208 (IBAN: DE27200100200001950208)
BLZ: 20010020 (BIC: PBNKDEFF)
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Transparenzhinweis
  • Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.
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