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Hitler im Ersten und Zweiten Weltkrieg: Historiker äußert provokante These


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Historiker Krumeich
"So hat Hitler den Ersten Weltkrieg gewonnen"

InterviewVon Marc von Lüpke

Aktualisiert am 07.05.2024Lesedauer: 7 Min.
Adolf Hitler (1943): Mit dem Sieg über Frankreich habe Hitler den Ersten Weltkrieg gewonnen, so Gerd Krumeich.Vergrößern des Bildes
Adolf Hitler (1943): Mit dem Sieg über Frankreich habe Hitler den Ersten Weltkrieg gewonnen, so Gerd Krumeich. (Quelle: imago-images-bilder)

Der Erste Weltkrieg endete 1918, doch für Adolf Hitler und zahlreiche Deutsche war dieser Konflikt erst 1940 vorbei. Historiker Gerd Krumeich erklärt, was der Erste mit dem Zweiten Weltkrieg zu tun hat.

Es ist Wissen aus der Schule: 1918 war der Erste Weltkrieg vorbei, Deutschland hatte verloren. Doch war der Krieg wirklich zu Ende? Abgeschlossen hatten die Deutschen noch lange nicht mit diesem Konflikt. Der Versailler Vertrag wies allein Deutschland die Kriegsschuld zu, das sorgte für Empörung und Verbitterung.

Emotionen, die Adolf Hitler für seine Zwecke zu nutzen wusste. Das sagt mit Gerd Krumeich einer der renommiertesten Experten für den Ersten Weltkrieg und Autor des Buches "Als Hitler den Ersten Weltkrieg gewann". Im Gespräch erklärt Krumeich, wie die unbewältigte Niederlage Deutschlands 1918 das Verhältnis zwischen Hitler und den Deutschen bis in den Zweiten Weltkrieg mitbestimmte.

t-online: Professor Krumeich, Sie vertreten eine provokante These: 1940 habe Adolf Hitler den Ersten Weltkrieg gewonnen. Wie kommen Sie zu diesem Schluss?

Gerd Krumeich: Selbstverständlich handelt es sich dabei um eine Provokation, die aber Hand und Fuß hat. Nach dem deutschen Sieg über Frankreich im Juni 1940 erschien im nationalsozialistischen "Völkischen Beobachter" eine Illustration: Sie zeigt einen deutschen Soldaten des Zweiten Weltkriegs, der seinen aus einem Schützengraben des Ersten Weltkriegs heraustretenden Kameraden eine Reichskriegsflagge überreicht. Den Zeitgenossen war die Bedeutung zweifelsohne bewusst: So hat Hitler den Ersten Weltkrieg gewonnen.

Deutschlands Sieg über Frankreich 1940 sollte also die als Schmach empfundene deutsche Niederlage von 1918 und den als Demütigung angesehenen Friedensvertrag von Versailles 1919 tilgen?

Richtig. Hitler hatte seinen Anhängern von Anfang an versprochen, Deutschland zu alter "Größe und Stärke" zurückzuführen. Kaum waren die Nationalsozialisten 1933 dann an der Macht, begann er Schritt für Schritt das "Diktat von Versailles" zu beseitigen. Mal mit mehr, mal mit weniger Einverständnis seitens der westlichen Alliierten. Mit der Kapitulation Frankreichs am 22. Juni 1940 während des Zweiten Weltkriegs war Hitler dann am Ziel.

Diese Kapitulation genoss der deutsche Diktator sichtlich: Die französische Delegation musste auf derselben Waldlichtung bei der Stadt Compiègne und im selben Eisenbahnwaggon kapitulieren, in dem die Deutschen am 11. November 1918 den Waffenstillstand mit den Alliierten unterzeichnet hatten.

Hitler strahlte wie noch nie in seinem Leben, es gibt ja noch die Bilder davon. Er hatte es sich auch nicht nehmen lassen, persönlich nach Compiègne zu reisen: Es war sein größter Tag. Unter der eben erwähnten Illustration im "Völkischen Beobachter" standen übrigens die Worte: "Und ihr habt doch gesiegt". Mehr Symbolik geht nicht.

Zur Person

Gerd Krumeich, Jahrgang 1945, ist einer angesehensten Experten zur Geschichte des Ersten Weltkriegs. Der Historiker ist Mitgründer des Weltkriegsmuseums Historial de la Grande Guerre im französischen Péronne, kürzlich erschien mit "Als Hitler den Ersten Weltkrieg gewann. Die Nazis und die Deutschen 1921–1940" (Herder-Verlag) Krumeichs neuestes Buch.

Eigentlich fand diese Formel nur Erwähnung in Zusammenhang mit den "gefallenen Kämpfern" der NS-Bewegung vor der Errichtung der Diktatur 1933. Warum nun in diesem Kontext?

Es war der Zeitpunkt, in dem sich zum ersten Mal die gesamte NS-Bewegung mit Deutschland identisch fühlen konnte. 1940 hat Hitler Frankreich geschlagen und Revanche für den Ersten Weltkrieg genommen. Große Teile Frankreichs waren nun von der Wehrmacht besetzt, so wie die Franzosen mit anderen Alliierten nach dem Waffenstillstand von 1918 in große Teile des Rheinlands einmarschiert waren. Damit war Hitler auf dem Höhepunkt seines Ansehens bei den Deutschen, selbst strikte Anti-Nazis applaudierten ihm damals.

In Ihrem Buch "Als Hitler den Ersten Weltkrieg gewann" attestieren Sie den Deutschen nach 1918 ein nicht bewältigtes Kriegstrauma, das Hitler und die Nationalsozialisten zu nutzen wussten. Wie ist das gemeint?

Zunächst möchte ich die Dimensionen einmal verdeutlichen: Im Ersten Weltkrieg sind zwei Millionen deutsche Soldaten gefallen, rund viereinhalb Millionen kehrten als Kriegsversehrte zurück. Das war für Deutschland ohne jeden Zweifel eine traumatische Erfahrung allergrößten Ausmaßes. Aber wie sah nun der Umgang der Weimarer Republik mit den vielen Millionen heimgekehrten Soldaten aus? Sie sollten sich wieder einreihen – und still sein. Die Trauerbewältigung ist damit nicht nur misslungen, sie war quasi verboten.

Warum?

Das ist eine gute Frage. Die Politiker der Weimarer Republik wollten – angesichts der Kriegsschuldfrage und horrender Reparationsleistungen – den verlorenen Krieg in den Hintergrund drängen. Sie hatten auch kaum Ahnung davon, nur einige wenige der Abgeordneten im deutschen Parlament von 1919 waren an der Front gewesen. Viele Deutsche stellten sich damals Fragen: Warum verbot die Weimarer Verfassung die Verleihung von Orden? Weshalb stellte man die Kriegsverwundeten den im Arbeitsalltag Verletzten rechtlich gleich? Für die Veteranen war das eine Provokation allergrößten Ausmaßes. Franz Seldte vom "Stahlhelm"…

… ein rechtsgerichteter Wehrverband, der später mit Hitler paktierte …

… stellte seinen Zuhörern bei einer Veranstaltung einmal die Frage "Meint ihr, ick habe meinen Arm unter de Elektrischen (Straßenbahn, Anm. d. Red.) verloren?" Wo es Ehrung und Gratifikation für diese Veteranen gebraucht hätte, erwartete sie eher Ignoranz und bisweilen auch Spott.

Frankreich ging mit seinen Kriegsversehrten anders um. Hätte sich die Weimarer Republik dort ein Beispiel nehmen sollten?

Ja! Fünf "gueules cassées", "zerschlagene Gesichter", wie diese Männer respektvoll genannt wurden, waren 1919 bei der Unterzeichnung des Friedensvertrags von Versailles anwesend. Kriegsversehrte nahmen in Frankreich selbstverständlich bei nationalen Feiern in der ersten Reihe Platz, eine bis heute existierende Lotterie sorgte für finanzielle Unterstützung. In Deutschland fand sich hingegen keine parteiübergreifende, geschweige denn ideologieübergreifende Form der Würdigung der Toten und Verwundeten des Krieges. In Frankreich existierte wiederum bereits seit 1919 ein Gesetz, wonach in jeder der circa 30.000 Gemeinden ein Kriegerdenkmal in der Nähe des Rathauses zu stehen hat.

Die Leere, die Demokraten und Republikaner im Deutschen Reich in Sachen Kriegserinnerung hinterließen, füllte dann Hitler aus?

So ist es. Der Soziologe Max Weber hatte noch während des Weltkriegs appelliert, den "heimkehrenden Kriegern" eine ihnen gebührende politische Rolle einzuräumen. Vergeblich. Das Gedenken an die Toten wurde dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge überlassen, überall sollte Findlinge als Gedenksteine aufgestellt werden – aber bitte nicht zu teuer. Für alles über 5.000 Mark war Luxussteuer fällig. So verpasste die Republik die Gelegenheit, das Weltkriegsgedenken zu "republikanisieren". Für Hitler war es die perfekte Chance. Neben den Nazis haben auch der Stahlhelm und andere das Weltkriegsgedenken vorangetrieben, aber so konsequent wie Hitler und die Nazis war niemand dabei.

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Hitlers entsprechende Pläne waren bombastisch.

In Reden beschwerte sich Hitler unentwegt über das mangelnde Gefallenengedenken der Weimarer Republik. Und entwickelte ein eigenes Vorhaben: In Germania, der herbeifantasierten neuen Reichshauptstadt, wollte Hitler nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs einen gewaltigen Triumphbogen errichten, in den die Namen aller zwei Millionen Toten des Ersten Weltkriegs eingraviert werden sollten. Diesen Plan fasste Hitler schon 1925, als die NSDAP noch eine Splitterpartei gewesen ist. Und 1935 beauftragte er seinen Architekten Speer, dieses riesige Monument – doppelt so hoch wie der Eiffelturm – zu realisieren. Die Probefundamente gibt es heute noch in Berlin.

Hitler wollte dem Tod der zwei Millionen deutschen Soldaten des verlorenen Ersten Weltkrieges also "Sinn" verleihen, indem diese dem deutschen Sieg im Zweiten Weltkrieg den "Weg geebnet" hätten"?

Das war Hitlers Konzeption, ja. 1929 widmete die NSDAP ihren ersten wirklich großen Parteitag der Erinnerung an den Ersten Weltkrieg, inklusive "Verdun-Feuerwerk". Nach der Machtübernahme 1933 entstanden dann die großen Kriegerdenkmäler, die heute nahezu allesamt noch stehen. Wissen Sie, warum? Weil keinerlei Nazi-Symbolik darauf zu sehen ist.

Unsinn wie die SA-Losung "Alles für Deutschland"?

Genau. Dazu gab es Kriegsausstellungen, die sich Millionen Deutsche angesehen haben. Mir kann doch niemand erzählen, dass das nur überzeugte Nazis waren, die sich so etwas angeschaut haben. Nein, in der deutschen Bevölkerung gab es ein breites Bedürfnis nach Trauer und Gedenken: von ganz rechter Seite über die Mitte bis hin zu den Linken. Dieses Bedürfnis der Deutschen haben die Nazis gestillt.

Nun können der Erste Weltkrieg und die unbewältigte Trauer wie Erinnerung daran doch nicht allein den Aufstieg und Erfolg der Nationalsozialisten erklären? Faktoren wie etwa Antisemitismus und Antikommunismus, Verachtung der Demokratie und ein aggressiver Größenwahn sind doch ebenfalls von hoher Relevanz.

Ich behaupte auch nichts anderes. Aber die Nachgeschichte des Ersten Weltkriegs in Weimar ist ein weiterer – und wichtiger – Baustein, der bislang so gut wie keine wissenschaftliche und gesellschaftliche Beachtung gefunden hat. Diese Lücke will mein Buch schließen helfen. Denn das unbewältigte Trauma, die Verbitterung über die Niederlage und den sogenannten "Schandfrieden" von Versailles war allen Deutschen über alle politischen Lager und Klassen hinweg gemeinsam, auch wenn man sich ständig über "Dolchstoß" und so weiter stritt. Als Hitler dann nach 1933 die Bestimmungen von Versailles unterlief, war ihm große Zustimmung gewiss.

1935 jubelten die Deutschen etwa, als Hitler vertragsbrüchig die Wehrpflicht wieder einführte, ein Jahr später herrschte erneut Hochstimmung, als die Wehrmacht in das eigentlich entmilitarisierte Rheinland einrückte.

Der Hitler traut sich was, so dachten zahlreiche Deutsche. Er hat sie beeindruckt und hatte mit diesen Aktionen auch Erfolg. Denn die Alliierten verzichteten auf Gegenwehr. Die in der Emigration befindliche SPD verzweifelte geradezu, wie beliebt Hitler in Deutschland gewesen ist angesichts seiner Zertrümmerung von Versailles. Der "Nazi-Spuk" war eben nicht so schnell vorbei wie erhofft. Absurderweise galt Hitler bis 1938 gar als "Friedenskanzler".

Spätestens mit dem deutschen Überfall auf Polen sollte diese Illusion geplatzt sein.

Bei Kriegsbeginn waren die Deutschen auch alles andere als begeistert, das spiegeln die Quellen deutlich. Da war keinerlei Hochstimmung zu spüren, das hat auch Hitler gemerkt. Als die Wehrmacht dann aber Frankreich schlug, kannte die Begeisterung keine Grenzen: Die Deutschen hatten den verlorenen Krieg und die "Schmach von Versailles" gerächt.

Zeigt sich hier die besondere Rolle von Emotionen?

Absolut. Den Friedensvertrag von Versailles nahmen die Deutschen auch als materielle und finanzielle Ungerechtigkeit wahr, aber dass ihnen der Artikel 231 die alleinige Kriegsschuld aufbürdete, sorgte für besondere Verbitterung. So etwas geht doch nicht über den Verstand, sondern sorgt auf der emotionalen Ebene für Zorn. Was bisher von der Forschung ebenfalls vernachlässigt worden ist, ist die Wut der Frauen. Stellen Sie sich eine Mutter im Jahr 1919 vor, die Ehemann oder Sohn im Ersten Weltkrieg verloren hat und nun zur Kenntnis nehmen musste, dass Deutschland allein dafür verantwortlich sein sollte – und dass man ihren toten Mann oder Sohn auch nicht besonders ehren wollte. Hier muss noch viel geforscht werden, auch um unsere Gegenwart besser zu verstehen.

Hitler hat also den Ersten Weltkrieg in gewisser Weise für Deutschland gewonnen, doch damit war sein Machthunger noch lange nicht gestillt.

Die Stimmung kippte allerdings gewaltig, als die Deutschen verstanden, dass Hitler noch viel, viel mehr wollte. Es stellt sich die historische Frage, ob sie es früher hätten kapieren müssen? Gleiches gilt für unsere Zeit.

Sie spielen auf Russlands Krieg seit 2014 gegen die Ukraine an?

Die historischen Parallelen sind doch offensichtlich. Als Hitler Polen angriff, hieß es in Frankreich "Mourir pour Dantzig?", auf Deutsch "Sterben für Danzig?" Erst holte sich Hitler Polen, später dann Frankreich. Nun debattieren wir darüber, wie stark wir der Ukraine helfen sollen. Wenn die Ukraine aber fällt, rückt uns Russland sehr, sehr nah. Das sollten wir nicht vergessen.

Professor Krumeich, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Gerd Krumeich via Videokonferenz
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