Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Kolumne "Russendisko" Darum schauen so viele Russen nach Portugal
Russland hat Wladimir Putin, die glücklichen Portugiesen wurden ihre Diktatur 1974 schon los. Was bilden sich Gewaltherrscher bloß ein? Fragt sich Wladimir Kaminer.
Die Menschen neigen dazu, die Probleme der Gegenwart mit Geschichten aus der Vergangenheit zu erklären. Sie wollen auf diese Weise einen Blick in die Zukunft gewinnen und werden immer fündig – als würde sich die Geschichte im Kreise drehen. Heute schauen viele Russen, die sich Gedanken über die Zukunft ihres Landes machen, nach Portugal. Sie entdecken viele Ähnlichkeiten.
Am 25. April feierte Portugal den 50. Jahrestag seiner Nelkenrevolution 1974. Damals kamen enttäuschte Rückkehrer aus Portugals Kolonialkrieg in Afrika zurück, sie hatten keine Möglichkeit, ihre Regierung verbal über die Sinnlosigkeit des Krieges aufzuklären – und gingen mit Gewehren auf die Straßen Lissabons. Der faschistische Dauerdiktator António de Oliveira Salazar war zu diesem Zeitpunkt schon eine Weile tot, seine verbliebene Anhängerschaft wusste mit der Revolution nicht umzugehen. Das Volk wiederum hat die "April-Kapitäne" mit Nelken auf der Straße begrüßt, und so ist die vorletzte Diktatur Westeuropas nach 48 Jahren Herrschaft einigermaßen friedlich zu Ende gegangen.
Zur Person
Wladimir Kaminer ist Schriftsteller und Kolumnist. Er wurde 1967 in Moskau geboren und lebt seit mehr als 30 Jahren in Deutschland. Zu seinen bekanntesten Werken gehört "Russendisko". Sein aktuelles Buch "Gebrauchsanweisung für Nachbarn" (mit Martin Hyun) ist kürzlich erschienen.
Ich war nach Lissabon gereist, um an einer Podiumsdiskussion teilzunehmen. Neben mir saßen vier Frauen auf der Bühne, die diese Revolution persönlich erlebt hatten: eine Widerstandskämpferin, eine Historikerin, eine Künstlerin und eine Anthropologin. Wir sprachen über den Charme der Diktatur. Ich bewunderte die Geduld der Portugiesen. 48 Jahren sind eine lange Zeit. Salazars Regierung hinterließ ein kaputtes Land, eine katastrophal verarmte Bevölkerung und eine Jugend, die permanent in sinnlosen Kriegen verheizt wurde.
Doch viele schienen diesen Salazar zu mögen. Er war kein Militär, mochte die Geheimdienste mehr als die Armee, war ein Zivilist, ein Buchhalter, der im Finanzministerium den Sessel gedrückt hatte, bevor er Diktator wurde. Ein unauffälliger, bescheidener und zurückhaltender Mann, kein Volkstribun und kein Charismatiker: Er trat ungern vor das Volk, bezahlte seine Dienstreisen aus eigener Tasche und hielt sein Privatleben geheim.
Genau wie Putin, der in die Kirche geht und stets von konservativen Werten und dem Schutz der traditionellen Familie spricht, selbst aber ein geschiedener Mann ist, der seine Liebschaften versteckt und seine zahlreichen Kinder geheim hält.
Putins zahllose "Kinder"
Mithilfe seiner Geheimpolizei erledigte Salazar alle seine politischen Gegner, seinen Hauptfeind, einen mutigen General, ließ er kaltblütig töten. Er führte permanent Kriege im Ausland, das er nicht als Ausland, sondern als Teil seines Staates betrachtete. Salazar wollte, wie Putin in der Ukraine, die Angolaner und Mosambikaner mit Waffengewalt davon überzeugen, dass sie in Wahrheit Portugiesen seien.
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Sie glaubten ihm allerdings nicht und leisteten Widerstand. Fast ein halbes Jahrhundert hielt Salazar das Land mit Angst und Propaganda fest in seiner Hand. Und die Menschen sagten sich, dann ist es eben so, wir können eh nichts tun, besser so als gar nichts. Und irgendwann fanden sie sogar Gefallen an seiner starken Hand, sie waren als mündige Bürger entlassen und widmeten sich dem Privatleben.
Der Charme der Diktatur besteht aus vollkommener Verantwortungslosigkeit des Volkes. Der Diktator allein übernimmt die Verantwortung. Nicht zufällig äußert der Pressesprecher des Kremls über das Privatleben des Präsidenten, dass dieser keine Zeit für solche Dinge habe: Putin sei mit Russland verheiratet. Dieser Logik folgend muss der Diktator die gesamte Bevölkerung des Landes für seine Kinder halten, die er mit Mütterchen Russland gezeugt hat. Als strenger – aber vordergründig gerechter – Vater sieht Putin sich in der Pflicht, diese Kinder zu erziehen. Wobei er weiß, dass das schlimmste, was den Kindern passieren kann, der Verlust eines Elternteils ist. Der Vater ist unersetzlich, denkt Putin.
Heute fragen sich viele: Glauben diese Diktatoren wirklich ernsthaft an die heilende Kraft ihrer Herrschaft, an ihre Vaterrolle? Die Antwort ist: ja. Vor allem, wenn die Diktatoren alte weiße Männer sind.
Irgendwann kommen sie alle zu dem Schluss, dass sie allein die Weltordnung auf ihren schmalen Schultern tragen – und wenn sie gingen, versänke die Welt im Chaos. Sie sind überzeugt, dass sie allein für den Lauf der Welt verantwortlich sind, dass ohne ihren Einsatz Sonne und Mond nicht rechtzeitig aufgehen würden.
Hand des Chaos
Alles, alles hier auf Erden müsse von ihnen in mühsamer Handarbeit gemacht werden. Ihre Bürger halten die Diktatoren für Kinder; und Kinder dürfen nicht mit dem Feuer der Freiheit spielen. Wenn man sie nur ließe, würden die Bürger sofort irgendwelchen Schurken oder Dummköpfen nachlaufen und das Land ginge vor die Hunde. Also wird das Volk in einem künstlichen Kinderkoma gehalten, es kann nichts und darf nichts, solange der Diktator lebt.
Zum Glück wurde ein Mittel zur Unsterblichkeit noch nicht erfunden, weswegen Diktaturen in der Regel mit dem Tod des jeweiligen Diktators enden. Sie hinterlassen ein Chaos und ein kaputtes Land. Nach einer Weile sehnen sich die Menschen dann wieder nach einer starken Hand. Die Tatsache, dass genau diese Hand für das Chaos danach verantwortlich sein wird, entgeht ihrer Aufmerksamkeit. So schließt sich der Kreis dann doch.