Schrecken ohne Ende? Darauf wird der Krieg schließlich hinauslaufen
Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Ein Ausgang des russischen Krieges gegen die Ukraine ist nicht absehbar. Eine Tatsache steht aber fest: Keine Seite wird ihr Ziel erreichen. Stattdessen zeichnet sich ein anderes Ende ab. Meint Wladimir Kaminer.
Eine offensichtliche Erkenntnis bringen uns die Nachrichten von der Front: Die westlichen Hilfeleistungen für die Ukraine samt Waffenlieferungen und Soldatenausbildung korrespondieren nicht mit den militärischen Erfolgen auf dem Schlachtfeld.
Logisch, denn es existiert keinerlei Gleichung, dass mehr moderne Waffen automatisch mehr Erfolg bringen. Im Herbst vergangenen Jahres, als die ukrainische Armee die Invasoren zunächst in die Flucht schlug, Cherson, Isjum und andere Städte nach monatelanger Besetzung befreien konnte, belief sich die gemeinsame westliche Unterstützung der Ukraine samt Waffen und Munition noch auf einen eher geringen Milliardenbetrag.
Wladimir Kaminer ist Schriftsteller und Kolumnist. Er wurde 1967 in Moskau geboren und lebt seit mehr als 30 Jahren in Deutschland. Zu seinen bekanntesten Werken gehört "Russendisko". Sein neues Buch "Frühstück am Rande der Apokalypse" erscheint am 23. August 2023.
Heute sind es mehr als 150 Milliarden, die Erfolge sind jedoch nicht ums Hundertfache gewachsen. Sie sind, um es vorsichtig auszudrücken, überschaubar. Je mehr beide Seiten von einem "Sieg" sprechen, umso deutlicher kommt zum Vorschein, dass dieser Sieg eigentlich für alle beteiligten Parteien eine heiße Kartoffel ist.
Warum? Im Falle eines ukrainischen Sieges verlöre das Regime Wladimir Putins seine Daseinsberechtigung. In der Vorstellung des Westens wäre dann ein zerschlagenes, gedemütigtes Russland ohne Führung ein Albtraum sondergleichen, es wäre ein Land mit einer durch das Feuer des Krieges gegangenen, bewaffneten, zum Teil als Wagner-Söldner aus dem Knast entlassenen Bevölkerung. Dieser Albtraum würde womöglich höhere Kosten als der heutige Krieg verursachen und die Situation noch unberechenbarer machen. Der Westen will das Gegenteil: Berechenbarkeit.
Der Bissen war zu groß für Putin
Wahrscheinlich sagten die Amerikaner und die Europäer deswegen mehrmals zu Beginn des Konfliktes: "Russland darf nicht gewinnen". Es war aber nie die Rede davon, dass Russland verlieren und kaputtgehen solle. Bei der Wahl zwischen einer schlechten und einer ganz schlechten Variante in Hinsicht auf ein Ende des Krieges wäre ein Einfrieren des Konfliktes für den Westen eine Situation, die sich besser berechnen ließe. Ein berechenbarer Schrecken ohne Ende erscheint manchem in diesem Falle günstiger als ein schreckliches Ende.
Das russische Regime seinerseits verkündet zwar lauthals, dass es gerne weiter expandieren und viele weitere Territorien schlucken möchte. Die Ukraine wäre nur eine Zwischenspeise, auch die anderen ehemaligen Republiken des sowjetischen Reiches sollten sich bereit machen für eine mögliche Annexion. Dieser Appetit scheint aber vergangen zu sein, denn bereits beim Versuch, einen Teil der Ukraine abzubeißen, haben sich die Russen den Kiefer verrenkt.
Die Ukraine ist Putins Möchtegernimperium im Hals steckengeblieben, sie rutscht dort weder raus noch weiter runter. Selbst die notwendigen Mittel, um den okkupierten Südosten des Nachbarlandes zu kontrollieren, sind nicht vorhanden. Heute wird die ganze Kraft der russischen Wirtschaft, der russischen Militärs und der russischen Führung gebraucht, um die eroberten rund 20 Prozent des ukrainischen Territoriums mit den Zähnen festzuhalten.
Auf das Eroberte verzichten können Putin und sein Regime aber nicht – denn eine Erklärung, warum so viele Menschen vergeblich hatten sterben müssen, wäre Putin nicht nur seinem Volk, sondern vor allem seiner Generalität schuldig. Also auch hier erscheint es den Verantwortlichen besser, den Krieg einzufrieren und das Vorhandene zum Sieg zu erklären.
Was tun?
Die Ukraine wiederum schreibt den Sieg und die Zerschlagung der feindlichen Armee ebenfalls mit ganz großen Buchstaben auf ihre Fahnen. Die vollkommene Befreiung des ukrainischen Territoriums samt Krim wird offiziell als einzig mögliches Ziel des Krieges verkündet. Eine klare Vorstellung, was die junge Republik mit den zurückeroberten Territorien rund um Luhansk und Donezk wie auch mit der Halbinsel Krim machen wird, ist aber nicht vorhanden.
Was soll mit den Menschen geschehen, die dort während der russischen Okkupation gelebt haben und sich nicht als Ukrainer verstehen? Sind alle diese Menschen Kollaborateure, sollen sie alle bestraft werden, und wenn ja, wie? Diese Territorien würden der Ukraine große Kopfschmerzen bereiten, diese Konflikte sind auf jeden Fall nichts, womit man der EU beitreten möchte.
Wenn in den nächsten Wochen nichts Unvorhergesehenes an der Front passieren sollte, läuft eben alles auf das Einfrieren des Krieges hinaus. Denn in gut gekühltem Zustand macht er weniger Angst. Solche eingefrorenen Kriege sind keine Seltenheit auf unserem Planeten, allein das russische Regime hat mehrere solcher: So in Georgien und in Moldawien, beide Republiken vermissen, so wie mittlerweile die Ukraine, ziemlich genau 20 Prozent ihres Territoriums.
Wir haben auch einen eingefrorenen Konflikt auf der koreanischen Halbinsel, wo offiziell seit Jahrzehnten ein stiller Krieg stattfindet. Und ebenfalls in Europa haben wir etwas Ähnliches im Falle Zyperns: Die Republik Zypern ist Mitglied der Europäischen Union, den Norden der Insel hält die Türkei, ein Nato-Mitglied übrigens, allerdings militärisch besetzt. Die EU kann offensichtlich damit leben.
Zurzeit wird in Deutschland Werbung fürs Auswandern nach Nordzypern gemacht. "Gesund alt werden" heißt es, dazu werden geringe Steuern, hohe Lebensqualität und traumhafte Strände versprochen.