Stimmungswandel in der Pandemie Das zarte Pflänzchen Hoffnung
Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Die Inzidenzen fallen, die Neuinfektionen sinken langsam, immer mehr Menschen sind geimpft. Anlass für Hoffnung auf ein Ende der Pandemie? Vorläufig schon, findet t-online-Kolumnist Gerhard Spörl.
SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach hat gesagt, er gehe davon aus, dass Mitte Juni die Inzidenz unter 50 fallen dürfte. Unser aller Karl ist ja eigentlich für düstere Einschätzungen der Pandemie zuständig. Damit hat er uns genervt, geärgert, vor allem dann, wenn er auch noch recht behielt. Da er nun zur Zuversicht übergeht, wollen wir ihm folgen und inständig darauf hoffen, dass es so schnell so erfreulich kommt, wie der schlaue Professor meint.
Plötzlich brechen gute Nachrichten über uns herein, man glaubt es kaum, entwöhnt, wie wir sind. Bald ist Pfingsten. Wir dürfen reisen. Wer Berge und Seen liebt: auf nach Bayern. Wer Meer will: Nord- und Ostsee lassen sich anfahren. Griechenland macht auf. Portugal macht auf. Die Balearen haben schon aufgemacht. Man glaubt es kaum, aber wir können uns aussuchen, wohin wir fahren oder fliegen wollen. Fast wie früher. Fast wie vor Corona.
Lockerungen nur vorläufig?
In Deutschland heißt Lockerung jetzt Experiment. So richtig trauen Bürgermeister, Landräte und Ministerpräsidenten dem Frieden wohl noch nicht. Deshalb geben sie der zarten Blüte Freiheit eine vorläufige Note. Ohne Auflagen geht es ohnehin nicht. Masken und Testen begleiten uns weiterhin. Papierkram muss ausgefüllt werden, was immer man unternehmen will. Wer sich genau erkundigt, welche Bedingungen in welchem Bundesland oder in welchem Ausland herrschen und worauf geachtet werden soll, ist gut beraten. Denn die Hauptsache ist doch die Rückgewinnung von ein bisschen Freiheit, oder?
Die Stimmung ändert sich, das merkt jeder, der kein Miesepeter ist. Natürlich hängt der Wandel mit dem Impfen zusammen. Die Zahl der Erstgeimpften steigt rasant, genauso wie die Zahl der zweimal Geimpften. Das war vorherzusehen, das konnte man wissen und trifft jetzt eben ein. Die nächtliche Ausgangssperre lässt sich kaum noch lange halten. Und wenn es gut geht, geht es von nun an bergauf.
Es hat ja Folgen, wenn Restaurants wenigstens draußen öffnen, wenn Menschen Geld für ihren Konsum ausgeben, wenn sie wegfahren oder wegfliegen – wenn der kapitalistische Kreislauf, der so lange leerlief, wieder leicht rotiert. In Amerika betrug das Wachstum im letzten Quartal 13 Prozent. 13 Prozent! Wirklich eine Menge. Amerika ist weiter mit dem Impfen, schon wahr, aber offensichtlich holen wir auf. Auch bei uns reden die überschwänglichen Optimisten schon wieder davon, dass Deutschland bald wieder zum Impfweltmeister aufsteigt.
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Interessant sind die Fragen, die nach dem Brechen der dritten Welle aufkommen werden. Wie sieht die Normalität aus, zu der wir im Spätsommer zurückkehren könnten – wie die Normalität vor Corona? Wie hat uns wohl die Pandemie verändert – individuell und national? Wie sieht die Welt danach aus?
Antworten können nur vorläufig sein, was denn sonst. Jedenfalls ist die Pandemie nicht vorbei, solange sie zum Beispiel in Indien wütet, weil es dort einen völlig verantwortungslosen Premierminister gibt. Haben wir Pech, entstehen dort neue Mutanten, die uns nicht erspart bleiben. Überhaupt könnten wir uns schon mal darauf einrichten, dass es bei zweimal Impfen nicht bleibt, sondern im Herbst Impfung Nummer 3 ansteht. Aber was soll's, Vorsorge darf schon sein.
Besonders spannend ist für mich, ob die Pandemie uns kulturell verändert. Wir wissen jetzt aus Erfahrung, dass sich der Schalter umlegen lässt. Sind wir dazu bereit, das Gelernte zum Beispiel auf die Klimapolitik anzuwenden? Gibt es in Deutschland eine Mehrheit für die Fridays-for-Future-Haltung, die alles dem Ziel unterwirft, die Erderwärmung zu minimieren? Glaube ich nicht, aber zur neuen Normalität wird schon ein Vetorecht gegenüber kapitalistischen Auswüchsen in Stadt und Land gehören. Vielleicht setzt sich auch die Neigung zum Weniger durch: weniger fliegen, weniger arbeiten, weniger konsumieren.
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Auf jeden Fall könnten wir uns ein Beispiel an dem Amerika Joe Bidens nehmen. Dort widmet sich der Staat dem Ausbau der Infrastruktur, der Stabilisierung der Mittelklasse und dem Kampf gegen Armut. Ist doch eine wirklich lohnenswerte Aufgabe, dafür zu sorgen, dass Gesellschaften nicht auseinanderfliegen. Wer für inneren Frieden sorgt, kann seinem Land auch weitgehende Reformen abverlangen.
Ich finde es erfreulich, dass sich in absehbarer Zeit die Blicke auf die Normalität nach der Pandemie richten werden. Das Positive macht doch erheblich mehr Spaß als das Negative. Und irgendwann werden wir hoffentlich mal sagen: Die Stimmung in der Pandemie änderte sich damals im Mai 2021, als die Länder sich wieder nach innen und außen öffneten und aus diesem zermürbenden Stillstand neue Lebenslust entsprang.