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Ukraine: Putins Truppen rücken in Charkiw vor – Kritik an Verteidigungsanlagen


"Es war ein Verrat"
Wie Putins Truppen in Charkiw so schnell vorstoßen konnten


Aktualisiert am 14.05.2024Lesedauer: 4 Min.
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"Schwierige Lage": Aufnahmen zeigen die angespannte Situation in der Region Charkiw. (Quelle: reuters)

Russland erringt bei seiner Offensive im Gebiet Charkiw "taktische Erfolge". Die ukrainische Militärführung in der Region steht in der Kritik. Hat Nachlässigkeit Russlands Angriff begünstigt?

Die ukrainischen Verteidiger der Region Charkiw stehen unter Druck: Seit Freitag haben die Truppen des Kremls Vorstöße in dem Gebiet im Nordosten der Ukraine unternommen und bereits mehrere Dörfer entlang der Grenze erobert. Der ukrainische Generalstab räumte am Montag "taktische Erfolge" der russischen Truppen in der Region ein.

Die russische Offensive in Charkiw kommt nicht gänzlich unerwartet: Bereits seit Beginn des Jahres warnten ukrainische Vertreter der Regierung und des Militärs immer wieder vor einer russischen Militäroperation in dem Gebiet. Mehr dazu lesen Sie hier. Vor diesem Hintergrund überrascht es, dass die russischen Truppen offenbar auf wenig Widerstand durch Verteidigungsanlagen der Ukrainer stoßen.

Der Gouverneur des Gebiets Charkiw, Oleh Synjehubow, bezeichnete die Lage im ukrainischen Fernsehen als "schwierig". Der Oberbefehlshaber der Armee, Oleksandr Syrskyj, nannte die Situation am Wochenende "kompliziert". Auch der Chef des ukrainischen Militärgeheimdienstes, Kyrylo Budanow, fand im Gespräch mit der "New York Times" deutliche Worte: "Die Lage ist brenzlig." Und mit jeder Stunde werde sie kritischer.

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Am Montag dann tauschte das Militär auch noch den Oberbefehlshaber für die nordöstliche Region aus, allerdings ohne dafür Gründe zu nennen. Hat die ukrainische Armee es trotz aller Warnungen verpasst, die Grenzregion gegen einen russischen Angriff zu befestigen?

"Es war ein Verrat"

Nach Angaben des Telegramkanals "Deepstate", der der ukrainischen Armee nahesteht, nahm die russische Armee während ihrer Offensive bereits ein Gebiet von rund hundert Quadratkilometern ein. In der Ostukraine, wo derzeit die heftigsten Gefechte stattfinden und die Verteidigungsanlagen besser ausgebaut sind, brauchten die Angreifer für ähnliche Geländegewinne Monate.

Doch nun griffen die russischen Truppen von der Grenze aus an. Dort stießen sie offenbar auf wenig Widerstand. Denys Jaroslawskyj, Kommandeur einer ukrainischen Aufklärungseinheit, erklärte der BBC: "Es gab keine erste Verteidigungslinie. Wir haben es gesehen. Die Russen sind einfach einmarschiert." Entlang der Grenze habe es keine Minenfelder gegeben. Jaroslawskyj erhob schwere Vorwürfe gegen ukrainische Beamte, die behauptet hatten, es seien für teures Geld Verteidigungsanlagen gebaut worden: "Entweder war es ein Akt der Nachlässigkeit oder Korruption. Es war kein Versagen. Es war ein Verrat."

Stimmen aus Kiew weisen das zurück: Einen Durchbruch hätten die Russen in Charkiw noch nicht erzielt. Der Chef des ukrainischen Center for Countering Disinformation (CCD), Andrij Kowalenko, sagte der Nachrichtenagentur Interfax zufolge, Meldungen über angeblich fehlende Verteidigungsanlagen in der Region seien eine russische Kampagne zur Desinformation. Diese verfolge das Ziel, die ukrainische Militärführung zu diskreditieren und Panik zu verbreiten.

Ukraine baut Verteidigungsanlagen

"Es ist unmöglich, Verteidigungslinien direkt an der Grenze zum Feind zu errichten", so Kowalenko. Ausrüstung und Einheiten zum Bau solcher Anlagen würden dort schlicht vom Feind zerstört werden, sagte er weiter. "Es gibt Verteidigungslinien in der Region Charkiw, das sind mehrere zuverlässige Linien. Autorisierte Personen werden Ihnen bald mehr über sie erzählen", sagte er. Die Situation habe sich zwar bedeutend verschlechtert, Gefechte fänden jedoch vor allem in der Grenzregion statt.

Tatsächlich hat das ukrainische Militär bereits in den vergangenen Wochen die Verteidigungslinien im Gebiet Charkiw ausgebaut, allerdings nicht direkt an der Grenze. Bilder zeigen lange Reihen sogenannter Drachenzähne, also pyramidenförmiger Betonstrukturen, die das Vorrücken vor allem von Panzern erschweren sollen. Dazu ist der Bau von Schützengräben auf den Aufnahmen zu erkennen.

Die Anlagen bestehen laut dem ukrainischen Militär aus einem Netz von Stützpunkten, die einen durchgehenden Streifen von Gräben und Befestigungen bilden. Jedem dieser Stützpunkte seien Barrieren vorgelagert, manche dieser Barrieren seien sogar mit Sprengsätzen ausgestattet. Dahinter lägen befestigte Schützenpositionen.

Laut Angaben des Gouverneurs von Charkiw, Oleh Synjehubow, gibt es nun "großangelegte Bemühungen an Hunderten Orten", um Befestigungsanlagen in dem Gebiet zu bauen. Die Bedingungen für die Arbeiter seien extrem schwierig, da sie vielerorts russischem Beschuss ausgesetzt sind. Außerdem ordnete er eine Überprüfung der Befestigungsarbeiten an, zu der alle beteiligten Baufirmen vorgeladen wurden.

Russen rücken über "Grauzone" hinaus vor

Ein ehemaliger ukrainischer Offizier, der sich auf der Plattform X "Tatarigami" nennt, bezeichnet das Grenzgebiet als "Grauzone", wo es weder Truppen noch Verteidigungsanlagen gebe. "Stattdessen werden die Befestigungen tiefer und etwas weiter von der Grenze entfernt positioniert, sodass die ukrainischen Truppen die nötige Zeit haben, um zu reagieren und je nach Situation Einheiten zu verlegen", erklärte der Ex-Militär. Die Russen seien mittlerweile jedoch teils über die "Grauzone" hinaus vorgerückt.

Denn die ukrainischen Verteidigungslinien seien lückenhaft – vor allem rund um die Stadt Wowtschansk, wo es derzeit die heftigsten Gefechte gibt. Russische Truppen sollen laut übereinstimmender Berichte bereits in die Außenbezirke des Ortes vorgedrungen sein und sich dort Häuserkämpfe mit den ukrainischen Verteidigern liefern. "Tatarigami" berichtete, dass manche der Stellungen rund um die Kleinstadt von Kiews Truppen verlassen worden seien.

"Dies ist das Ergebnis systemischer Probleme"

Der ehemalige Offizier führt das vor allem auf mangelnde Führung zurück. Der russische Angriff in Charkiw sei nicht unvorhergesehen gewesen. Dass Stellungen aufgegeben werden, weise darauf hin, dass die Führung der dort stationierten Brigade trotz der Informationen über einen drohenden Angriff nicht adäquat auf die Bedrohung reagiert habe. "Dies ist das Ergebnis systemischer Probleme, die auf ein mangelndes Verständnis der Fähigkeiten und der Bereitschaft der Brigade sowie auf Probleme bei der Ausbildung des Personals zurückzuführen sind."

Einen Punkt, der die russischen Vorstöße zusätzlich begünstigt, sieht der Ex-Offizier auch in den verzögerten Waffenhilfen aus dem Westen, vor allem in Bezug auf die Artillerie. Die USA hatten im April nach monatelangen Debatten ein 61-Milliarden-Dollar-Waffenpaket verabschiedet. Munition, Waffen und Gerät kommen jedoch erst jetzt schrittweise an der Front an. "Dieses Problem ist in diesem Fall jedoch nicht das Kernproblem", schränkt der ukrainische Experte ein.

Große Teile der Region Charkiw standen bereits unter russischer Kontrolle. Zu Beginn des russischen Angriffskriegs im Februar 2022 rückten die Kremltruppen in dem Gebiet schnell vor. Im Herbst 2022 aber schlug die ukrainische Armee überraschend zurück und verdrängte das russische Militär aus dem Gebiet. Seitdem unternahmen die Russen dort keine weiteren Vorstöße. Zuletzt gab es vor allem Kämpfe rund um den Ort Kupjansk nahe der Grenze zur ostukrainischen Oblast Luhansk.

Verwendete Quellen
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