Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Gefährliche AfD-Gedanken Soll sich doch Putin nehmen, was er will
Wir steuern auf zwei Jahrestage zu, an denen die Grundlagen für Deutschland gelegt wurden. Grund genug, einen Blick zurück nach vorne zu werfen.
Übermorgen ist das Ende des Zweiten Weltkrieges 79 Jahre her. Der 8. Mai 1945 war ein sonniger Tag in einem wüsten Land. Meine Eltern erzählten mir, es sei still gewesen, wie aus der Zeit gefallen. Sie waren jung, 20 und 25 Jahre alt. Die Stümpfe meines Vaters, dort, wo beide Beine amputiert worden waren, waren endlich geheilt, sodass er jetzt Prothesen tragen konnte. Sie waren in einer ramponierten Villa in Hof einquartiert, immerhin. Aber das Schlimmste sei diese absolute Ungewissheit gewesen, diese schreckliche Unsicherheit, wie es weitergehen würde, was die Sieger nach der bedingungslosen Kapitulation mit ihnen machen würden.
Zur Person
Gerhard Spörl interessiert sich seit jeher für weltpolitische Ereignisse und Veränderungen, die natürlich auch Deutschlands Rolle im internationalen Gefüge berühren. Er arbeitete in leitenden Positionen in der "Zeit" und im "Spiegel", war zwischendurch Korrespondent in den USA und schreibt heute Bücher, am liebsten über historische Themen. Alle Artikel lesen Sie hier.
Die deutschen Glückskinder
Vier Jahre später war es erstaunlich glimpflich weitergegangen. Am 23. Mai 1949 wurde die Bundesrepublik gegründet. Weder die Gründung noch die Demokratie waren ihre freie Wahl. Die Deutschen mussten sich zu ihrem Glück zwingen lassen. Die Bundesrepublik war ein angloamerikanisches Produkt und richtete sich geschickt damit ein. Trotz alledem waren die Deutschen, die Europa überfallen und unvergleichliche Kriegsverbrechen begangen hatten, Glückskinder der Geschichte.
75 Jahre ist der Gründungstag her. 75 Jahre sind eine lange Zeit. Wie zwischen dem Wiener Kongress und der Wende zum 20. Jahrhundert. Wie zwischen der Französischen Revolution und dem ersten der drei deutschen Einigungskriege.
1949 hatten die Deutschen Konrad Adenauer, Ludwig Erhard und den Marshall-Plan. In der Folge kam das Wirtschaftswunder und das Land wurde Mitglied der Europäischen Union und der Nato.
"Er hat uns befreit"
Natürlich lief nicht alles so glatt, wie es scheint. Deutschland war ja geteilt. Noch 1989 wandte der Großschriftsteller und Nobelpreisträger Günther Grass gegen die Wiedervereinigung ein, die Teilung sei doch die Konsequenz aus Auschwitz und die DDR eine kommode Diktatur. Tatsächlich waren die Ursachen und Gründe für den großen Krieg und seine Folgen lange umstritten und führten immer wieder zu dramatischen Diskussionen in Politik und der Öffentlichkeit.
Der liberalen Mehrheit sprach der Bundespräsident Richard von Weizsäcker 40 Jahre nach 1945 aus dem Herzen. "Der Blick ging zurück in einen dunklen Abgrund der Vergangenheit und nach vorn in eine ungewisse dunkle Zukunft. Und dennoch wurde von Tag zu Tag klarer, was es heute für uns alle zu sagen gilt: Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft."
Das Wir, das Weizsäcker meinte, schloss die unterjochten Völker und die in den Vernichtungslagern befreiten Juden, Sinti, Roma ein – alle Menschengruppen, die von den Nazis als unwertes Leben erniedrigt worden waren. Die Rede war das Musterbeispiel, wie man einer ungeheuer komplexen Geschichtsetappe gerecht werden kann.
Die AfD will eine andere Erzählung
So verstand sich das deutsche Narrativ, das seither am 8. und 23. Mai wiederholt wird. Aber so einfach, so unumstritten, ist es jetzt nicht mehr. Dagegen setzt die erstarkte national bis nationalistisch gesonnene Rechte eine konkurrierende Erzählung. Sie lässt sich zum Beispiel in der "Sezession" nachlesen, dem Zentralorgan der Rechten. Der Verleger heißt Götz Kubitschek, ist der Vordenker der AfD und der Anreger für eine Umdeutung der Geschichte der Deutschen seit dem 23. Mai 1945.
Aus dieser Sicht habe der maßlose Opportunismus der Deutschen dazu geführt, sich vor allem mit der Siegermacht USA zu identifizieren und deren Vorliebe für Konsumismus und Materialismus zu übernehmen. So sei das eigentlich Deutsche verloren gegangen, wobei nicht ganz klar ist, worin es bestand. Das erschließt sich leichter in der Gegenwart, etwa im Verhältnis zu Russland, das in der AfD gerade wegen Putins eiserner Autokratie hoch geschätzt wird. In diesem Zusammenhang erscheine auch der Angriffskrieg gegen die Ukraine als ein Zeichen imposanter Stärke. Im Unterschied dazu sei es eine Schwäche der Regierung Kohl gewesen, die um der Wiedervereinigung willen die Oder-Neiße-Grenze zu Polen anerkannte, so argumentiert die Rechte.
Aus Sicht der Rechten läuft in Russland vieles richtig
Russland ist für die deutsche Rechte in vielerlei Hinsicht ein Vorbild. Nimmt die Demokratie Rücksicht auf Minderheiten, ist die Autokratie weit davon entfernt, Rücksicht auf LGBTQ zu nehmen oder zu gendern. Aus der Perspektive der intellektuellen und weniger intellektuellen Rechten läuft dort vieles richtig, was hier falsch läuft.
Revisionismus ist ihr Leitmotiv. Der lange Weg nach Westen, den Deutschland seit 1945 unternahm, ist für sie ein Irrweg. Die deutsche Rechte will zurück zum Nationalstaat und zu einer Orientierung, in deren Zentrum Bismarck steht. Das Jonglieren mit mehreren Kugeln. Das Nichtfestlegen, das aber einhergeht mit der Vorsicht, nicht allein zu stehen. Das Selbstgefühl einer europäischen Vormacht aus eigenem Recht.
Trumps Schlachtruf ist auch der Schlachtruf der AfD
Längst Vergangenes lebt hier wieder auf. Die Folge ist die Verachtung der Europäischen Union, weil sie den Nationalstaat schwächt, und das Misstrauen in die Nato, die unter Hegemonie der USA steht.
Make Germany strong again – der Trumpsche Schlachtruf ist auch der Schlachtruf der AfD. Und weil Wladimir Putin gerne Abgesandte der europäischen Rechten empfängt und sie auch alimentiert, gesteht man ihm den Imperialismus zu. Auch hier ist Donald Trump der Leitstern – soll sich doch Putin verdammt noch mal nehmen, was er will.
Die Erinnerung an die eigenen Ursprünge an den Gedenktagen im Mai ist nie wertfrei. Das historische Gedächtnis führt immer zu einer Geschichtspolitik, die auf die Gegenwart zielt und daraus eine Zukunft entwirft. Eine wehrhafte Demokratie aber hält an ihrem Narrativ fest und legt die Schwächen konkurrierender Erzählungen entschlossen frei. Und deshalb lohnt es sich, in den nächsten Tagen den Festtagsreden genau zuzuhören.
- Eigene Beobachtungen