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Deutscher Historiker erklärt: "So lässt sich die AfD besiegen"


Historiker Thomas Weber
"Dann haben wir ein gewaltiges Problem"

InterviewVon Marc von Lüpke

08.11.2023Lesedauer: 8 Min.
Interview
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Alice Weidel und Tino Chrupalla: Die AfD lässt sich wirksam eindämmen, sagt Historiker Thomas Weber.Vergrößern des Bildes
Alice Weidel und Tino Chrupalla: Die AfD lässt sich wirksam eindämmen, sagt Historiker Thomas Weber. (Quelle: M. Popow/imago-images-bilder)

Im Krisenjahr 1923 versuchte Adolf Hitler den Putsch, heute werden Deutschland und die Welt erneut durch Spannungen und Kriege erschüttert. Davon profitiert die AfD, die sich auf dem Vormarsch befindet. Wie sich ihr Aufstieg mit Blick auf die Geschichte verhindern lässt, erklärt Historiker Thomas Weber.

Krisen über Krisen erschüttern unsere Gegenwart: Russlands Krieg gegen die Ukraine demontiert die Weltordnung, die Terrororganisation Hamas attackierte Israel und China arbeitet am Ausbau seiner Macht. In Deutschland profitiert die AfD von der tiefen Verunsicherung der Menschen, immer lauter werden daher die Warnungen vor "Weimarer Zuständen".

Doch ist es überhaupt sinnvoll, unser Heute mit den Jahren 1923, als Hitler am 9. November gegen die Republik putschte, und 1933 als Beginn der NS-Diktatur zu vergleichen? Durchaus, sagt mit Thomas Weber einer der führenden Experten für die Entstehung des Nationalsozialismus. Wenn man die richtigen Fragen stellt. Im Gespräch erklärt der Historiker, wie sich die AfD erfolgreich eindämmen ließe, welche Fehler die Politik gemacht hat und warum sich Adolf Hitler selbst als "Demokrat" betrachtete.

t-online: Professor Weber, Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich, heißt es: Wie sinnvoll ist daher der Vergleich unserer krisenhaften Gegenwart mit den Jahren 1923 und 1933?

Thomas Weber: Deutschland 2023 ist weder die Weimarer Republik von 1923 noch von 1933, als sie letztendlich kollabiert ist. Die öffentliche Debatte neigt dazu, immer wieder denselben Fehler zu begehen: Verglichen werden die konkrete Form des politischen Zusammenbruchs und das dazugehörige politische Personal. Das führt in der Konsequenz zu wenig hilfreichen Fragestellungen.

Etwa, ob Wladimir Putin, Donald Trump oder Recep Tayyip Erdoğan die neuen Hitlers seien?

So ist es. Um es deutlich zu sagen: Weder Putin, noch Trump oder Erdoğan sind Hitler. Auch gleichen die USA vor den Präsidentschaftswahlen 2024 nun keineswegs Deutschland 1933. Tatsächlich ist der Vergleich von Gegenwart und Vergangenheit sinnvoll, allerdings ist die Gefahr immens, Sachverhalte zu vermengen, die einfach nicht zusammengehören. Vielversprechender ist der Ansatz, sich den Motor des Zusammenbruchs der Weimarer Republik anzuschauen. Dann sehen wir auf einmal große Ähnlichkeiten zwischen dem Damals und dem Heute.

Welche sind das?

Krisenwahrnehmung und Krisenbewusstsein sind entscheidend – sie verbinden uns mit der Vergangenheit der Jahre 1923 und 1933. Bislang ist auch von meiner eigenen Zunft nicht ausreichend herausgearbeitet worden, welche Auswirkungen Krisen auf die Gesellschaft haben. Damit meine ich existenzielle Krisen, die den Menschen das Gefühl geben, dass es um alles oder nichts ginge. Werfen Sie einmal einen Blick in die Regale der Buchhandlungen: Da finden Sie Dutzende aktuelle Publikationen über das Krisenjahr 1923 mit Hitler-Putsch am 9. November, Ruhrbesetzung, Hyperinflation und so weiter. Diese Bücher sind allesamt gut, aber kein Autor beantwortet die zentrale Frage: Was bedeutet eigentlich Krise?

Thomas Weber, Jahrgang 1974, lehrt Geschichte und Internationale Politik an der University of Aberdeen und leitet das dortige Centre for Global Security and Governance. Derzeit ist der Historiker Visiting Fellow der Hoover Institution an der amerikanischen Stanford University. Weber ist Autor mehrerer Bücher, 2016 veröffentlichte er "Wie Adolf Hitler zum Nazi wurde. Vom unpolitischen Soldaten zum Autor von 'Mein Kampf'". Im vergangenen Jahr gab Weber "Als die Demokratie starb. Die Machtergreifung der Nationalsozialisten – Geschichte und Gegenwart" heraus.

Wie lautet Ihre Antwort?

Krisen, beziehungsweise die Wahrnehmung, in einer solchen zu leben, verändern die Menschen. Es kommt weniger darauf an, ob es sich objektiv um eine existenzgefährdende Dauer- oder Megakrise handelt, sondern, ob die Leute sie als solche empfinden. In derartigen Zeiten grassiert das Gefühl, dass "die da oben" die Krise nicht in den Griff bekommen würden. Wenn sie sie nicht gar selbst verursacht hätten. Die Mächtigen können es einfach nicht, so lautet die Überzeugung. Sie sollen dann zumindest einen Denkzettel verpasst bekommen oder am besten ganz ausgetauscht werden.

Was ein Grund für den enormen Zulauf ist, den die AfD verbucht.

Ja. Das Muster ist zeitlos gleich: Weil die Verantwortlichen die Krise nicht entschärfen könnten, wäre das kollektive Überleben infrage gestellt. In solchen Zeiten lassen Menschen alte politische Überzeugungen hinter sich und probieren Neues aus. Das ist dann die Stunde der Demagogen, im konkreten Fall machen die Leute eben ihr Kreuz bei der AfD. Um nicht falsch verstanden zu werden: Derartige Umorientierungen können sich auch positiv auswirken. In autoritären Staaten werden in diesem Fall manchmal demokratische Reformen möglich.

Bei uns ist zurzeit eher die AfD auf dem Vormarsch. Wie können die Parteien der demokratischen Mitte wieder das Vertrauen der Menschen gewinnen?

In Zeiten wie diesen ist es nicht nur wichtig, gut zu regieren, sondern auch gut mit der Bevölkerung zu kommunizieren. Das ist nicht unbedingt Olaf Scholz' Stärke. Politik muss aber erklärt und vermittelt werden. Das fehlt ganz stark in Deutschland – und in der westlichen Welt insgesamt. Den Demagogen der Gegenwart muss ein positives Narrativ entgegengestellt werden, das den Menschen bewusst macht, auf welches Ziel Politik und Gesellschaft hinarbeiten. Es ist ferner auch Aufgabe der Politik, in manchen Situationen einzugestehen, dass es nicht für jedes Problem die schnelle Lösung gibt. So lässt sich die AfD besiegen.

Wenn wir der Politik allerdings aufs sprichwörtliche Maul schauen, entsteht schnell der Eindruck, dass sie für nahezu jedes Problem eine Lösung parat habe.

Die Politik hat sich selbst ins Bein geschossen – indem sie die Erwartungshaltung befeuert hat, dass jegliche Krise von ihr gelöst werden könne. Derartige Ereignisse und Entwicklungen wären vorhersehbar und entsprechend einzudämmen. Damit hat man den Menschen aber etwas versprochen, was die Politik niemals einlösen kann. Die Historikerin Beatrice de Graaf hat dies eindrucksvoll untersucht. In den sich zurzeit überlappenden Krisen wird auch immer mehr Menschen bewusst, dass die Politik sich übernommen hat mit ihren Versprechungen.

Das schwindende Vertrauen in die liberale Demokratie liegt aber nicht nur am Versagen der politischen Parteien. Welche Faktoren tragen noch dazu bei?

Das Problem ist weit größer, ja. Man kann so viel auf den Bundeskanzler einschlagen, wie man will: Das ist Teil des politischen und medialen Geschäfts. Tatsächlich erodieren aber seit Jahren neben dem Schwinden des Vertrauens in die Politik auch die vorpolitischen Werte. Das sollte uns wirklich Angst machen.

Was verstehen Sie darunter?

Vorpolitische Werte sind das Fundament einer liberalen Demokratie. Solidarität, Empathie auch Kontrahenten gegenüber, Vertrauen, Toleranz, Mäßigung, Gerechtigkeit, Geduld, Respekt und soziale Verantwortung gehören dazu, alles, was in den Kirchen, aber auch Gewerkschaften oder Vereinen an Werten großgeschrieben wird.

Was sehen Sie als Ursache für die Erosion dieser Werte?

Social Media spielt eine große Rolle, für destruktive Inhalte bekommt man eben mehr Likes als für konstruktive. Was durchaus dem Geschäftsmodell der Branche entspricht. Ich sehe auch ein Gefährdungspotential durch Künstliche Intelligenzen, die von Demagogen ausgenutzt werden können. Die Massenmedien sollten wir an dieser Stelle auch nicht vergessen.

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Bitte erklären Sie das näher.

Massenmedien sind mittlerweile regelrechte Maschinen des Misstrauens geworden. Begonnen hat dieser Trend vor gut 30 Jahren in Nordamerika, aber mittlerweile ist es ein globales Phänomen. Es ist die Aufgabe einer verantwortungsvollen Presse, kritisch zu sein, aber mittlerweile wird alles zynisch gesehen. Nehmen wir Interviews mit Politikern: Da herrscht keine objektive Grundhaltung mehr, sondern offene Destruktion. Vieles davon ist der Höhe der Auflage geschuldet, zusammen mit Social Media entfaltet sich dann eine ungeheuer negative Wirkung auf die Demokratie.

Die AfD reklamiert in der Gegenwart den Anspruch für sich, die "wahre" Demokratie zu vertreten. Ähnlich trat auch Adolf Hitler einst auf.

Das ist in der Tat eine Parallele zu Hitler. Was die AfD macht, ist auch nicht gerade neu. Hitler verstand den Nationalsozialismus als eine Art bessere Form der Demokratie. Und zwar einer illiberalen Demokratie, ein Begriff, den wir heute mehr mit dem Ungarn eines Viktor Orbán verbinden. Hitler sah sich als der wirkliche Demokrat – so lässt sich die Attraktivität des Nationalsozialismus für derart viele Zeitgenossen damals erklären. Diese Leute wollten weder einen Kaiser zurück, der sie von Gottes Gnaden regierte, noch eine Weimarer Republik, die sich während der Krise in ihrer Wahrnehmung nicht bewährt hatte.

Die Schaffung einer angeblich "besseren" Demokratie durch Hitler und die Nationalsozialisten endete dann in Weltkrieg und Holocaust.

Es führte die Welt vor die Tore der Hölle, ja. Zur Überwindung einer existenziellen Megakrise zerstörten die Nationalsozialisten Demokratie, Liberalismus und Sozialismus gleichermaßen. Sie verhießen, dass alle Macht vom Volk ausgehen müsse im Sinne einer nationalsozialistischen illiberalen "Volksgemeinschaftsdemokratie". Das Ergebnis ist bekannt und sollte uns als Lehre gereichen für den Umgang mit illiberalen Demokratien in unserer Zeit und ihren Anhängern.

Andererseits lohnt sich der Blick auf andere Länder, deren Entwicklung während der Megakrise zu Beginn der Dreißigerjahre nicht in einer Diktatur endete. Was machten etwa die Niederlande anders?

Dieses Beispiel ist überaus interessant, weil dort die Demokratie ebenso wie in Deutschland auf Messers Schneide stand. Warum aber blieb sie in den Niederlanden intakt? Weil die Eliten die Demokratie nicht unbedingt liebten, sie aber in der als extrem krisenhaften Zeit als Überlebensmodell auch für sich selbst favorisierten.

Damit war die Bedrohung durch die Radikalen aber nicht gebannt?

Königshaus, Regierung und Eliten haben eine kluge Strategie gewählt. Radikale Gruppierungen von rechts wurden zwar nicht verboten, aber als unehrenhaft erklärt. Staatsbedienstete durften ihnen nicht beitreten, ihre Mitglieder keine Uniform in der Öffentlichkeit tragen. So war das Problem zwar nicht aus der Welt, aber es wurde eben klein gehalten.

Nun herrscht in der heutigen Union anhaltende Konfusion, wie sie mit der AfD umgehen soll. Es wird von Brandmauern gesprochen, dann wieder von Zusammenarbeit auf Lokal- und Landesebene. Was ist Ihr Ratschlag?

Die bayerischen Konservativen hatten bis zu Hitlers Putschversuch im November 1923 keinerlei Brandmauer zu den Nationalsozialisten aufgebaut – und sich dann mächtig die Hände verbrannt. Es war sogar noch schlimmer, in Bayern herrschten bis dahin geradezu paradiesische Zustände für rechte Radikale. Genau genommen konnte der Nationalsozialismus unter diesen Umständen überhaupt erst entstehen. Der AfD entgegenzukommen wäre für die Union äußerst unklug, was sich wiederum an den Niederlanden illustrieren lässt.

Dort ist im Juli die Koalition im Streit über den Nachzug von Angehörigen von Flüchtlingen zerbrochen.

Vier Parteien bildeten die Regierung, darunter der Christen-Democratisch Appèl und die Christenunie, beides sind Schwesterparteien der CDU in Deutschland. Der Unterschied ist, dass sich der Christen-Democratisch Appèl auf rechtspopulistische Positionen eingelassen hat, während die Christenunie zu ihren christlich-demokratischen Werten stand und gegen die Erschwerung des Nachzugs von Angehörigen von Flüchtlingen ist. Welche Partei aber profitiert in den Umfragen? Die Christenunie, ihre Zustimmungswerte blieben stabil, während sich der Rechtsschwenk für den Christen-Democratisch Appèl als kompletter Reinfall erwiesen hat.

Im Zweifelsfall überholt die radikale Rechte konservative Nachahmer ohnehin.

Absolut. Mein Rat an den konservativen Flügel der Union lautet daher, sich darüber klar zu werden, was Konservativismus eigentlich ist. Dazu gehört die Einsicht, dass die Verantwortung füreinander und für die Bewahrung der Schöpfung, sowie ein Freiheits- und Gerechtigkeitsbegriff, der Freiheit und Gerechtigkeit mit allen teilen will, den Kern des christlichen Menschenbildes ausmacht – und nicht rechtspopulistische Stammtischparolen. Wenn die Frage nach dem Wesen des Konservativismus positiv beantwortet und kommuniziert wird, kann man die AfD eindämmen. Darüber hinaus sollte die Union dringend die Brandmauer zur AfD höher ziehen.

Wie hoch?

Die AfD kann auf allen politischen Ebenen gerne mit abstimmen, aber es darf niemals auf die Stimmen der AfD ankommen. Es darf keine politischen Entscheidungen geben, die es ohne die AfD nicht gegeben hätte. Die Erwartungshaltung muss sein, dass es die jeweilige Mehrheit auch ohne die Mitwirkung dieser Partei geben wird. Dafür müssen die demokratischen Parteien sorgen.

Nach den in Ostdeutschland 2024 anstehenden Wahlen könnten die Demokraten allerdings eine Minderheit in einigen dortigen Bundesländern sein. Zumal Sahra Wagenknecht weitere Unzufriedene ansprechen könnte neben der AfD. Was dann?

Dann haben wir ein gewaltiges Problem. Besser wäre es, wenn es nicht so weit kommt. Aber wir Demokraten sind doch alles andere als wehrlos: Wir können die Menschen zurückholen.

Wie aber dabei vorgehen?

Wir müssen den Glauben und die Überzeugungen der Extremisten und ihrer Anhänger ernster nehmen – und sie nicht auf eindimensionale Karikaturen reduzieren. Gerade bei deren Anhängern ist es wichtig zu erfahren, welche Sorgen sie umtreiben. Dann können die Demokraten überzeugendere Antworten und Visionen für die Zukunft finden. Fernab der Extremisten und ihrer Ideen.

Die Extremisten werden sich aber schwerlich bekehren lassen. Was tun?

Wir müssen ihre Narrative kontaminieren. Die Forschung zeigt, dass sich Radikalisierung in wesentlichem Maß aus Unrechtsempfinden und Erlösungsversprechen speist. Wenn diese Narrative kontaminiert werden können – auch mithilfe von Personen oder Institutionen, auf die Extremisten hören oder einmal gehört haben – kann der Kreislauf der Radikalisierung und des Demokratiezusammenbruchs durchbrochen werden. Es wird aber ein langer Weg.

Professor Weber, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Thomas Weber via Videokonferenz
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