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Politik in Kriegszeiten: Deutschland muss noch viel mehr Revolution wagen


Politik in Kriegszeiten
Deutschland muss noch viel mehr Revolution wagen

MeinungVon Christoph Schwennicke

21.03.2022Lesedauer: 4 Min.
Meinung
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Kanzler Scholz (l.) und Oppositionschef Merz im Bundestag: Braucht es einen Pakt auf Zeit?Vergrößern des Bildes
Kanzler Scholz (l.) und Oppositionschef Merz im Bundestag: Braucht es einen Pakt auf Zeit? (Quelle: imago images, Montage: ha)

Die deutsche Politik hat noch nie so schnell und geschlossen die Hebel umgelegt wie nach Ausbruch des Ukraine-Krieges. Aber nun stehen weitere weitreichende Entscheidungen an.

Dieser Satz ist schrecklich oft strapaziert, und meistens hat er nicht einmal gestimmt. Selbst beim 11. September 2001 nicht. Nach diesem furchtbaren Tag war schon bald vieles wieder so, wie es vorher war. Für den 24. Februar 2022 und die Tage seither aber stimmt der Satz: Es ist wirklich nichts mehr, wie es sehr lange war.

Der Krieg, dieser Angriff auf die Ukraine und ihre Souveränität, den eine Großmacht auf dem Boden Europas mit aller Brutalität führt, hat alles von heute auf morgen umgestülpt. Weil es sich im Unterschied zu 9/11 in diesem Fall um einen Territorialkrieg eines weltweit wirtschafts- und interessenverflochtenen großen Landes, einer früheren Weltmacht, handelt und nicht um eine global agierende Terrorgruppe irgendwo in den Höhlen des Hindukusch. Er hat unser Leben in fast allen Bereichen unmittelbar spürbar verändert und die Welt tatsächlich aus den Angeln gehoben.

Unvorstellbares ist plötzlich Wirklichkeit. Selbst ein Atomschlag und ein apokalyptischer Atomkrieg liegen nicht mehr außerhalb jeder Möglichkeit.


Ich gebe zu: Ich hätte es nicht für möglich gehalten, wie schnell die deutsche Politik in diesem Ernstfall den Hebel umgelegt hat. Politik ist immer ein Spiegel der Gesellschaft und deren Debatten. Und ich hatte ernste Zweifel daran, ob ein Land das hinbekommt, das sich bis vor vier Wochen noch leidenschaftlich darüber gestritten hat, ob man besser mit Doppelpunkt oder mit Sternchen gendert und ob es zwei, drei oder doch 23 Geschlechter gibt.

Vom Tornado direkt zur F-35

Schon das Coronavirus hatte es gelehrt, aber richtig begriffen wurde es erst mit dem Ukraine-Krieg: Es gibt eine Bedrohung, die noch gefährlicher, möglicherweise noch unmittelbarer, tödlicher ist als der Klimawandel. Und in diesem Fall definitiv noch menschengemachter.

Dieser neuen unerhörten Lage hat die Politik in Deutschland, in Europa, im gesamten Westen beeindruckend geschlossen entsprochen. In Deutschland, einem Land mit historisch bedingtem Widerwillen gegen alles Militärische, ist ein 100-Milliarden-Aufrüstungsprogramm für die Streitkräfte geplant, ohne dass Friedensmärsche zu Hunderttausenden auf die Bonner Hofgartenwiese oder sonst wo gestartet wären.

Jahrzehntelang quälte sich die Bundeswehr mit Verzicht und Mangel und Überalterung, jetzt bekommt sie – nur als Beispiel – für die uralten Tornados auf einen Schlag drei Dutzend F-35, und damit die modernsten Kampfflugzeuge, die weltweit zu haben sind. Vom Tornado direkt zur F-35, das ist wie ein Ford Galaxy als direkter Nachfolger des Model-T von Henry Ford, um es am Bild eines ebenfalls amerikanischen Fabrikats zu illustrieren.

Entscheidungen werden jetzt notwendig

Die deutsche Politik ist also mit Entscheidungen unmittelbar dem gerecht geworden, was Bundeskanzler Olaf Scholz zu Recht eine Zeitenwende nennt. Es werden aber jenseits der 100 Milliarden Euro zusätzlich für die Bundeswehr weitere Entscheidungen notwendig werden, die alles über den Haufen werfen, was bisher galt und was als strategisches Ziel festgeschrieben worden ist.

Beispiel Energie: Es wird nach dem Ukraine-Überfall durch Russland nicht damit getan sein, dass Wirtschaftsminister Robert Habeck persönlich in Katar und anderswo Ersatzgas für das russische auftreiben will, weil die Abhängigkeit von Putins Suchtstoff beendet werden soll.

Wie in Belgien wird es darum gehen müssen, alle Atomanlagen so lange weiterlaufen zu lassen, wie es geht und vertretbar ist. Es wird darum gehen, die letzten drei Meiler auf keinen Fall wie geplant dieses Jahr abzuschalten, sondern eher darüber nachzudenken, die drei abgeschalteten von diesem Jahreswechsel wieder hochzufahren.

Ernährung von Menschen hat Vorrang

Beispiel Nahrung und Landwirtschaft: Es wird nicht damit getan sein zu versichern, dass Deutschland in seiner Versorgung mit Weizen und damit Brot autark und sicher ist. Auf jeder bisherigen Brache muss in diesem Frühjahr gesät werden. Denn Deutschland muss alles tun, was es in seiner immer noch günstigen Klimazone machen kann, um die Ernteausfälle aus den Kornkammern Russlands und der Ukraine zu kompensieren. Denn Russland wird nicht liefern und die ukrainischen Bauern werden ihre Felder in diesem Frühjahr nicht bestellen, weil sie kämpfen.

Da müssen der Brachvogel (Disclaimer: Ich bin großer Vogelfreund und wollte als kleiner Junge immer Ornithologe und Vogelschützer werden!) und die Bekassine und die Heckenbraunelle einmal hintanstehen und die im Prinzip berechtigten Bedenken ihrer Beschützer gegen extensive Landwirtschaft auch. Es geht jetzt wirklich um jeden Sack Weizen obendrauf. Ganz nebenbei sind auch die vielen üblichen Maisfelder zum Füttern von Biogasanlagen eine Obszönität in dieser Lage. Die Ernährung von Menschen auf der ganzen Welt hat jetzt Vorrang.

Diese beiden Beispiele zeigen: Es muss jetzt Akutpolitik gemacht werden, die grundsätzlich im Widerspruch steht zu strategischen Zielen, auf die man sich in diesem Land verständigt hat.

Bei Corona hat der Deal schon geklappt

Daher ist nicht mehr nur die Frage, wie man in diesen Ausnahmemodus gestartet ist (Antwort: erstaunlich gut). Die Frage ist nun: Wie kommt man eines Tages aus diesem Ausnahmemodus wieder heraus und in den Normalmodus zurück?

Denn natürlich fürchten Gegner einer solchen Notenergie- und Notlandwirtschaftspolitik, dass die Restauration dies ausnutzt, um das Rad politisch zurückzudrehen. Diese Befürchtung ist auch nicht unbegründet – sie ist zwar so ausgekaut wie ein alter Kaugummi, aber das berühmte Beispiel einer dereinst akut eingeführten und nie mehr abgeschafften Sektsteuer zur Kriegsfinanzierung ist hier ewig mahnendes Beispiel.

Warum soll das nicht auch hier klappen?

Es stünde dem politischen Betrieb und seinen Wettbewerbern, Regierung und Opposition, politischer Linker und ihrem konservativen Gegenüber, gut zu Gesicht, wenn sie sich für diese außerordentlichen Maßnahmen auf einen Pakt der Vernunft im Ausnahmezustand verständigen könnten.

Konkret: Die Brachen werden mit Weizen bepflanzt, die Atomkraftwerke unter Volllast gefahren und weitere radikale Abweichungen vom Kurs zu Friedenszeiten ermöglicht – für die Dauer des Krieges und die Behebung seiner Folgen. Für die Zustimmung zu solchen Zumutungen gegen ihre inneren Überzeugungen bekommen deren Gegner die Zusage, dass diese Abweichung vom eigentlich eingeschlagenen Kurs einer Energie- und Landwirtschaftswende nur auf Zeit gilt und in Friedenszeiten wieder rückgebaut wird wie ein abgeschaltetes Atomkraftwerk.

Bei Corona hat dieser Deal in einem anderen Kontext (Einschränkung des Grundrechts der Freiheit aus triftigem Grund auf Zeit) im Großen und Ganzen gut funktioniert. Warum soll das nicht auch hier klappen? Es wäre ein Ausweis wirklich reifer und erwachsener Politik.

Hier finden Sie alle Kolumnen von Christoph Schwennicke.

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